


Im Denkraum der Besonnenheit
| Autor*in: | Gerhard Danzer |
|---|---|
| Verlag: | Springer-Verlag, Heidelberg 2025, 351 Seiten |
| Rezensent*in: | Matthias Voigt |
| Datum: | 16.12.2025 |

Wenn Egon Friedell eine längere Pause vom Theaterspielen bei Max Reinhard machte, war die literarische Welt anschließend um eine weitere seitenstarke Kulturgeschichte bereichert. Das ging mir durch den Sinn, als ich das neueste Buch von Gerhard Danzer in Händen hielt. Wir erfahren hierin, wen er von den Literaten der Moderne bevorzugt, wenn er deren Beiträge zum Humanismus des 21. Jahrhunderts würdigt. Aufklärung und Therapie geben den Bezugsrahmen ab - auch das verbindet ihn mit der Arbeit von Reinhard und Friedell. Danzer allerdings lässt seine Klinik nicht gern zu lange allein und beendet das Buch bereits um die Seite dreihundertfünfzig.
In Büchern über Belletristik bevorzuge ich in der Regel die Essays über jene Autoren, deren Werke mir halbwegs vertraut sind. Virginia Woolf und Herrmann Broch, von Danzer befragt nach einem möglichen Zuhause in einer lädierten Welt, gehörten bisher weniger dazu. Sartre, Brecht, über deren Thematik es heißt: Die Dramen der Welt machen uns schaudern, sind mir bekannter. Wenn dann das Kapitel zu George Orwell und Thomas Mann überschrieben ist mit Wir sind verwoben in die Geschichten der erzählten Welt, dann fühlt sich mein Therapeutenherz besonders zum Lesen angeregt. Die Wendung Und dennoch hoffen wir auf Reparatur der Welt, mit der das Buch endet, machte mich neugierig und irritierte mich zugleich. Die Reparatur-Metapher fiel für mein Empfinden irgendwie aus dem Rahmen.
Danzers Essays über die genannten Literaten verarbeiten berufsbedingt mehr Biographie als in der engeren Fachwissenschaft üblich, und sie tun das auf eine leserfreundliche Weise. Heiligenlegenden bleiben uns erspart, auch wenn den dargestellten Autoren gegenüber so etwas wie Zuneigung spürbar wird. Unwillkürlich frage ich mich als Leser, wem unter den hier Präsentierten mein eigener Vorzug gilt.
Nicht ohne tiefere Absicht wähle ich eine unter den beiden Frauen des Buches aus. Virginia Woolf gegenüber empfinde ich Hochachtung; Sympathie aber für Ingrid Warburg-Spinelli. Was über ihr Leben berichtet wird, berührt mich in seiner spontanen Weltoffenheit. Ihr Blick ist von einem mitfühlenden Engagement geleitet, dem jede überlegene Attitude fremd ist. Wir erfahren, dass sie sich der materiellen Bevorzugung als Tochter aus einer steinreichen Familie schämt. Sie entledigt sich dieser Regung nicht durch ein Ressentiment dem Großbürgertum gegenüber, in dem ihr Lebensgefühl verwurzelt ist. Im US-Exil trägt sie zur Rettung derer bei, die dem Nazi-Regime nicht rechtzeitig entkommen konnten. Dabei nutzt sie ihre Beziehung zu Eleanor Roosevelt als mächtigen Hebel. Später heiratet die emanzipierte Jüdin einen italienischen und zudem katholischen Ex-Kommunisten. Mit ihm hat sie fünf Kinder, die allesamt eine katholische Schule besuchten.
Ingrid Warburg-Spinellis Lebensweg lässt sich offensichtlich nur begrenzt als Vita einer Intellektuellen begreifen. Dazu lässt sie sich zu tief in die zwischenmenschliche Sphäre involvieren. Woraus mag nun ihr beherzter Lebensmut und ihre Freigebigkeit gespeist worden sein? Auf den letzten Seiten des hier besprochenen Buches erfährt der Leser von einer ihr eigenen Einbindung in eine geistige Welt, in der Einstellungen und Haltungen aus der Tradition des Judentums nachklingen und wirksam sind. Ging es in den vorangegangenen Kapiteln des Buches um die Frage nach der Erweiterbarkeit eines „Denkraums der Besonnenheit“, eröffnet sich im letzten eine andere Sphäre (ein Handlungsraum) und damit eine andere Deutungsmöglichkeit der Beziehung zwischen Mensch und Welt.
Was in der letzten Überschrift als Hoffnung auf Reparatur unserer Welt bezeichnet wird, greift eine Wendung aus dem Hebräischen auf: Tikkun Olam (תיקון Tiqqun: »Festigung«, »Vervollständigung«, »Nachbesserung«; עולם , Olam: »Welt«). Damit ist keine ideelle Motivation gemeint, sondern ein habituell gewordenes Handeln, das dem Menschen situativ Orientierung verleiht - ein Wert, der sich im Raum zwischenmenschlicher Gemeinschaft verwirklicht.
Eine offene Frage hat die Lektüre des inhaltsreichen Buches allerdings bei mir zurückgelassen. Gerhard Danzer setzt seine Hoffnung darauf, ein Zuwachs an Besonnenheit möge zu positiven Veränderungen in unserer krisengeschüttelten Zeit beitragen. Aber gehört der Wert der Besonnenheit nicht eher der Sphäre intellektueller Reflexion an, wo wir uns im Modus kontemplativer Betrachtung über die Welt Gedanken machen? Oder gibt es nicht auch (wie bei Warburg-Spinelli) spontanes und zugleich besonnenes Handeln - ein Agieren und Reagieren jenseits von tragischem Scheitern oder heldenhaftem Triumph? Die im vorliegenden Buch besprochenen Künstler und Literaten siedelten ihre Texte jedenfalls in eben jenem Milieu an, womit sie uns Leser dazu anregen, über unsere Haltung und Einstellung zu unserer lädierten und teilweise unwirtlichen Welt nachzudenken.