Hamster im hinteren Stromgebiet
Autor*in: | Joachim Meyerhoff |
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Verlag: | Kiepenheuer & Witsch, Köln 2020, 4. Aufl. 2024, 307 Seiten |
Rezensent*in: | Hartmut Siebenhüner |
Datum: | 26.02.2025 |
Der autobiografische Roman Hamster im hinteren Stromgebiet von Joachim Meyerhoff hat mich besonders angesprochen und bewegt, weil er darin genau erzählt, wie er mit 51 Jahren einen schweren Schlaganfall erleidet und bewältigt - und weil ich selber im vergangenen Herbst von einem ähnlichen, aber leichteren Ereignis überrascht wurde, das mich sehr erschreckt und verunsichert hat.
Wie viele andere Werke der Literatur kann uns dieses Buch dazu verhelfen, die Lebenserfahrungen anderer Menschen und auch das eigene Leben besser zu verstehen und zu gestalten. Beim Lesen wird deutlich, dass das Sich-Erinnern, das Erzählen und das Niederschreiben für den Autor wesentlich zur Bewältigung seiner schweren Krise beigetragen hat und auch für den Leser hilfreich und ermutigend sein kann. Als der Text 2020 veröffentlicht wurde, meinte das Magazin Der Spiegel, man sollte das Buch „auf Rezept“ bekommen können. Der Autor sagte selbst später in einem Interview:
„Das Buch hat mir geholfen, mir die Macht über mein Leben wiederzuholen. Denn das will die Krankheit auch: Sie will selbst erzählen, sie will die Erzählung an sich reißen. Dagegen muss man sich wehren. In meinem Alter, so Mitte 50, lauern ja auch die Depressionen. Deshalb ist dieses Buch auch eine Aufforderung, geistig beweglich und neugierig zu bleiben.“
Joachim Meyerhoff ist durch seine Bücher ein erfolgreicher Schriftsteller geworden. Er ist seit seiner Jugend Theaterschauspieler, war zweimal „Schauspieler des Jahres“ und hat auch Regie geführt. Nach seiner Ausbildung in München hatte er Engagements in Kassel, Bielefeld, Dortmund und Köln, spielte am Maxim-Gorki-Theater in Berlin und am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg. Ab 2005 war er viele Jahre Ensemble-Mitglied des Wiener Burgtheaters und nach seiner Erkrankung an der Berliner Schaubühne von 2019 bis 2023 und zuletzt in München engagiert. Zurzeit gehört er keinem festen Ensemble an und arbeitet freiberuflich. Er lebt in Berlin und ist Vater von drei Kindern.
Meyerhoff, geboren 1967 im Saarland, ist in Schleswig-Holstein auf dem Gelände einer Nervenklinik aufgewachsen, wo sein Vater Leiter der Kinder- und Jugendpsychiatrie war. Er war der jüngste von drei Brüdern, von denen der mittlere durch einen Autounfall verstarb, als er (der Autor) selber sich für ein Jahr als Schüler in Amerika aufhielt. Über diese Zeit schreibt er in seinem ersten Buch mit dem Titel Alle Toten fliegen hoch (2011). Danach hat er weitere fünf Bücher über sein Leben und das seiner Familie geschrieben. Den Inhalt der ersten Bände hat er zuvor in einem eigenen Programm erfolgreich im Burgtheater in Wien und beim Theatertreffen 2009 in Berlin auf die Bühne gebracht.
Wie kam es damals in Wien zu diesem Schlaganfall? Es gab keine Warnzeichen, außer dass er sich damals „glücklich, aber überlastet“ gefühlt hat, „stets vor der totalen Erschöpfung.“ Als er mit seiner Tochter über eine Schulaufgabe sprechen wollte, merkte er, dass seine linken Gliedmaßen außer Kontrolle gerieten; und weil er voll bei Bewusstsein war, wusste er sofort, dass es sich um einen Schlaganfall handelte und er so schnell wie möglich in eine Klinik gebracht werden musste. Das gelang mit Hilfe der Tochter nach einigen Schwierigkeiten. Er wurde zehn Tage auf einer Intensivstation für Schlaganfall-Patienten medizinisch rund um die Uhr überwacht und behandelt.
Ihm war bewusst, dass nach einem Schlaganfall bald ein zweiter mit noch gravierenderen Folgen eintreten und auch das Ende bedeuten kann. Um seine existenziellen Ängste zu bewältigen, versuchte er, sich nachts wach zu halten, indem er sich frühere Reiseerlebnisse mit seinem Bruder und mit seiner Frau in Erinnerung rief. Diese Nacht-Erzählungen hat er in seinem anschließend verfassten Buch ausführlich festgehalten, ebenso seine Eindrücke und Erfahrungen während des Klinikaufenthalts. – Ein Blutgerinnsel hatte sich im Kleinhirn festgesetzt und einige Gehirnzellen geschädigt, wodurch seine linksseitigen Körperbewegungen außer Kontrolle gerieten. Mit einer Infusion wurde eine sogenannte Thrombolyse durchgeführt, sodass sich der Blutpfropf auflöste. Eine Physiotherapie und eigenes Training verhalfen ihm dazu, allmählich seine Bewegungen wieder zu kontrollieren und das verlorengegangene Vertrauen in seinen Körper wiederzuerlangen.
Er schaffte es, den körperlichen Zusammenbruch nicht zu einer seelischen Katastrophe werden zu lassen, da er seine Fähigkeiten als dynamischer Schauspieler sowie seine enorme Sprachkompetenz mobilisierte. Schon auf dem Weg in die Klinik versuchte er, sein Sprechen zu überprüfen, indem er Passagen aus Goethes Faust deklamierte. Die Sprache verhalf ihm, „sich in so einer Extremsituation über Wasser zu halten.“ Er sagte später: „Die Worte waren tatsächlich das Seil, an dem ich mich festgehalten habe, um den Dingen Begriffe zu geben.“ Sie ermöglichten es ihm, sich nicht nur als Opfer zu fühlen, nicht in der Situation unterzugehen, sondern ihr standzuhalten und wieder selber über sein Leben bestimmen zu können.
Er ist somit ein Beispiel dafür, dass Sprache, das Aussprechen und Erzählen der eigenen Gefühle und Erlebnisse uns wirklich helfen kann, wieder selbstbewusst und kräftig zu werden. Diese Erfahrung können wir alle machen, wenn wir in einer Psychotherapie oder in einem entspannten Gespräch von unseren Nöten und Erlebnissen erzählen können. In Goethes Drama Torquato Tasso sagt der leidende Dichter: „Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt, Gab mir ein Gott zu sagen, wie ich leide.“
Eine besondere Form des Erzählens, der sich Meyerhoff bedient und die er schon erfolgreich vor dem Schlaganfall angewendet hat, ist das Schreiben. In seinen Büchern berichtet er sehr anschaulich und oft humorvoll von seinem äußeren und inneren Leben sowie seinen Erinnerungen. Es geht um allerlei Verlusterlebnisse und andere Schicksalsschläge, die in seinen Büchern erzählt werden und dadurch zum Teil seines Lebens geworden sind. Sie haben ihn gestärkt und bereichert, wie er zum Ausdruck bringt.
Was ihm dazu verholfen hat, die Katastrophe zu bewältigen und zu überwinden, war auch der Entschluss, die Erkrankung und die damit verbundene Hilflosigkeit und Angst anzunehmen, nicht zu verleugnen, andererseits sich aber nicht von ihr beherrschen zu lassen. Permanent hat er seine körperliche und seelische Verfassung beobachtet und versucht, in Worte zu fassen, was er erlebt, was er empfindet und welche Gedanken ihm durch den Kopf gehen, ähnlich wie beim freien Assoziieren in einer klassischen Psychoanalyse. So empfindet er sich in seiner Hilflosigkeit als „armer Tropf am Tropf“ und denkt: „Das Hirn beobachtet das Hirn.“
Da er gegen Ende seines Klinikaufenthalts auf dem parkartigen Gelände Feldhamstern begegnet war, die sich vor ihren unterirdischen Gängen bewegten, verknüpfte er dieses Erlebnis mit der Störung in seinem Kleinhirn, welches in der Fachsprache auch „hinteres Stromgebiet“ genannt wird. So klingt der Titel seines Buches Hamster im hinteren Stromgebiet so, als ob sich diese Tiere in den Hirnwindungen zu schaffen gemacht haben.