Freud – Jenseits des Glaubens
Autor*in: | Marc St. Germain |
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Verlag: | X-Verleih |
Rezensent*in: | John Burns |
Datum: | 28.12.2024 |
Der Schriftsteller C.S. Lewis (1898-1963) ist mir während meiner Schulzeit und meines Literaturstudiums kaum begegnet. Ich kann mich dunkel erinnern, dass uns bei der Morgenandacht am Gymnasium aus der Schrift The Screwtape Letters vorgelesen wurde, in welcher Lewis die Fragen der christlichen, vornehmlich der anglikanischen Religion, in einer Reihe von Briefen abhandelt. Analog der Versuchung des Hiobs stellt sich Lewis in seinem Briefroman vor, wie der Teufel einen gläubigen „Patienten“ vom rechten Weg des Glaubens abzubringen versucht.
Offensichtlich dachten unsere Lehrer damals, dass wir Argumente benötigten, um mit dem Sturm und Drang der Pubertät fertig zu werden. Da ich damals den Glauben hinsichtlich der emotionalen Anforderungen des Lebens schon beiseitegeschoben hatte, fühlte ich mich von den moralischen Skrupeln eines vom Teufel geplagten Erdlings – Lewis hatte eine Vorliebe für Mythologie und science fiction – wenig angesprochen.
Den Konflikt zwischen Pflicht und Neigung wollte der amerikanische Professor Arman Nicholi anhand einer Gegenüberstellung der Werke des frommen Lewis und denen des gottlosen Juden Sigmund Freuds (1856-1939) veranschaulichen. Seine Studenten und Studentinnen sollten lernen, sich eine eigene Meinung zu bilden, indem sie beide Standpunkte, des Gläubigen und des Atheisten, miteinander verglichen. Auf dem Buch Nicholis basierend entstand das von Marc St. Germain geschriebene Drehbuch des Theaterstücks und Films Freuds Last Session (Freud – Jenseits des Glaubens).
Wie wird ein solches Intellektualisieren über Gott und die Welt für das Kinopublikum spannend erzählt? Mit viel Rücksichtnahme auf die Geduld der Zuschauerinnen und Zuschauer entwickelt sich die fiktive Begegnung zwischen dem Gründer der Psychoanalyse und dem Intellektuellen Lewis zu einem spannenden Disput. Freud verbringt die letzten Monate seines Lebens in Hampstead London, nachdem er von Freunden überredet werden konnte, seine geliebte Stadt Wien zu verlassen. Ausschlaggebend hierfür waren die Verhaftung und das Verhör seiner Tochter Anna durch die Gestapo. Als sie aufgrund ihrer Besonnenheit – es gelang ihr, die Arbeit der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung als unpolitisch darzustellen – wurde sie mit Hilfe einflussreicher Bekannter aus der Gestapohaft entlassen.
Mit Rückblenden aus dem früheren Leben der Protagonisten und mit Material aus Radio und Film wird der individuelle und historische Kontext der „letzten Sitzung“ Freuds szenisch veranschaulicht. Freud bemüht sich, den Oxford-Professor Lewis zu analysieren und seine Abkehr vom früheren Atheismus aus seinem Ödipuskomplex heraus zu erklären; Lewis seinerseits ist nicht abgeneigt, seinen älteren Gegenüber ebenfalls zu einer Beichte über Vergangenes zu bewegen.
Das Gespräch zwischen dem christlichen Apologeten und dem Gründervater der Psychoanalyse verläuft leicht affektiv, aber niemals ohne Humor. Aus der Sicht eines christlichen Moralisten dürfe ein Vater seine Tochter nicht um ihre eigene Karriere und ihr eigenes Liebesleben betrügen. Freud, so Lewis, habe Unmenschliches von seiner Tochter Anna verlangt, indem er eine begabte junge Frau gerade in den letzten Jahren seines Lebens als Pflegerin unverhältnismäßig stark in Anspruch nahm.
Als Kontrapunkt zum Hauptthema des Films wird eine Liebesbeziehung zwischen Anna und ihrer Freundin Dorothy Burlingham dargestellt. Jeder, der sich intensiver mit den diversen Biographien über Sigmund Freud beschäftigt hat, wird an mancher Stelle über die freischwebende Fantasie des Drehbuchautors staunen. Wer sich aber auf den Film einlässt, kann die Suche nach historischen Ungereimtheiten aufgeben und sich über eine rein menschliche Begegnung zwischen zwei intelligenten, empfindsamen und dialogbereiten Partnern aus verschiedenen Kulturkreisen und Sozialisationshintergründen freuen.
Als Dorothy Burlingham und Anna Freud am Ende des Films vor dem Urvater Freud in inniger Freundschaft dastehen, ist die Neuzeit schon angebrochen. Der Film, der sich vor allem auch Therapeutinnen und Therapeuten empfiehlt, regt zu einer erneuten Lektüre der Kulturschriften Freuds an, denn das Thema „Psychoanalyse, Religion und Moral“ ist im 21. Jahrhundert immer noch relativ unerforscht.