49
Rezensionen
ITGG Berlin - Rezensionen
#7C9CA4
#C66A13

Kunst & Literatur

Einhorn. Das Fabeltier in der Kunst

Autor*in:Museum Barberini, Potsdam, Herbst 2025
Rezensent*in:John Burns
Datum:16.12.2025

Wofür steht das Einhorn, das fabelhafte Wesen, das keiner je gesehen hat? In der Barberini-Ausstellung wird die Rolle der Märchenfigur in Bild und Schrift veranschaulicht, wie sie seit der Entstehung des mythischen Tieres in vorsintflutlicher Zeit bis zu seiner Verwendung in der heutigen Werbung als Möglichkeit der Schöpfung gesehen wurde. Welche Eigenschaften werden ihm zugedacht, dass es zu einem Rorschach-Test und zu einer Projektionsfläche der menschlichen Imagination wurde? Im letzten Raum der Ausstellung erhalten die Besucher und Besucherinnen Informationen zur Klärung dieser Frage: 

„Zu den wichtigsten Eigenschaften des Einhorns zählten die frühen Autoren seine Wildheit, Angriffslust und Stärke. Diese Einschätzung  beruhte auch auf einer Vermischung mit Berichten über das Nashorn. Das späte Mittelalter sah das Einhorn in Gesellschaft der Wilden Leute, dem Gegenbild zur Zivilisation. Gegenüber allen Lebewesen verhielt sich das Einhorn aggressiv. Es attackierte andere Tiere, etwa Drachen und Löwen sowie seinen Lieblingsfeind, den Elefanten. Aber auch Menschen waren vor ihm nicht sicher. In persischen wie europäischen Heldenerzählungen musste ein mutiger Kämpfer gegen ein böses Einhorn antreten. Diesen unheimlichen und bedrohlichen Aspekt des Einhorns thematisierten Künstler bis ins 16. Jahrhundert. Auch die zeitgenössische Kunst kennt die kämpferische Natur des Einhorns“. 

Mit einer spitzen Waffe ausgestattet, erschien den post-freudschen Künstlern und Künstlerinnen der männlich imponierende Satyr als Sinnbild der patriarchalischen Dominanz in der Sexualbeziehung, wie das Bild einer nackten Frau auf dem Rücken eines Einhorns veranschaulicht. Hat sie es nun bezähmt, wie die Blutstropfen am Maul des Tieres zu verstehen geben, oder vielleicht auch nicht, wenn wir den ängstlichen Ausdruck der Frau zur Interpretation des Bildes von Angela Hempel aus dem Jahre 1988 heranziehen? 

Nicht nur die Psychoanalytiker und Psychoanalytikerinnen projizierten auf das stolze Zwitterwesen ihre Sexualsymbolik. Auch die christlichen Maler porträtierten das beinahe inzestuöse Verhältnis zwischen der Jungfrau Maria und dem bindungswilligen und zärtlichkeitsbedürftigen Tier. Die jungfräuliche Geburt Jesu und sein späterer Leidensweg sollten schon in der Schwangerschaft der Gottesmutter symbolisiert werden, wie einige Bilder in der Ausstellung bezeugen. Ein sanftes Lamm im Schoss Mariens entspreche dem späteren Schicksal des Heilands durchaus nicht, drückt die aggressive Tönung des Einhorn-Bildes mit Maria aus. 

Der Surrealist René Magritte (1898-1967) dagegen schickt das Einhorn in seinem 1964 entstandenen Bild Der Meteor auf die Theaterbühne, wo es seiner Meinung nach mit mürrischem Blick und einem an Märchen erinnernden Festungsturm auf dem Kopf geeignet wäre, in Shakespeares Sommernachtstraum (1595) die Rolle des Handwerker-Esels Bottom zu spielen. 

So irrte ich etwas ratlos durch die Einhorn-Ausstellung, die mit genauen Beschreibungen der Exponate ausgestattet ist. Was ich den Hinweisen und Erklärungen der Bildbeschreibungen nicht entnehmen konnte, erfuhr ich von den Mitbesuchern und -besucherinnen der Ausstellung. Sogar eine Kunstexpertin, die eine Gruppe durch die Ausstellung führte, half mit bei der Einordnung der Ästhetik des kuriosen Sammelsuriums. Die ausgestellten dekorierten Elefanten- und Narwalstoßzähne, die ich bestaunte, waren in sogenannten Kuriositätenkabinetts im 19. Jahrhundert sehr beliebt, erklärte sie. 

Eine weitere Expertin saß entspannt auf dem Boden vor einem Bild eines halbnackten Schönlings, Orpheus, der ein aggressives Einhorn durch seine anmutigen Harfenklänge zu besänftigen versuchte. Sie malte eine altersgemäße Kopie des Bildes. Sehr perfektionistisch in ihrem Ansatz, radierte das kleine Mädchen ihre Bleistiftlinien immer wieder aus und begann von Neuem, ihr Bild zu zeichnen. 

Das Bild muss für sie eine Bedeutung haben, dachte ich. Und für mich? Ich versuchte, mein Wissen um biblische Mythen, christliche Symbolik, die Scholastik, die Botanik vom älteren Plinius und meine Eindrücke der Literatur des Mittelalters zusammenzureimen, kam aber zu keinem Ergebnis bezüglich meiner Einschätzung der Ausstellung. Die Bilder und Exponate stimmten mich eher nachdenklich. Leben wir heute in einer fantasiearmen Welt der rationalen Vernunft oder ist die Fantasie an den vielen visuellen Eindrücken erkrankt, denen wir heute ausgesetzt sind?

Gerade diese Fragestellung beschäftigte mich auf dem Heimweg. Wir können wie René Magritte die alten Bilder ad acta legen, oder wir setzen uns mit der goetheschen Frage auseinander: Was ist die exakte Fantasie? Welches Verhältnis hatten die Menschen zur Natur, als sie solche Bilder entwarfen? Zwischen Irrtümern und Wahrheit zu unterscheiden, ist seit der Antike eine Frage, mit welcher die Philosophie sich beschäftigt. Immanuel Kant erläuterte in seiner Kritik der reinen Vernunft (1787): 

„Die menschliche Vernunft hat das besondere Schicksal in einer Gattung ihrer Erkenntnisse: dass sie durch Fragen belästigt wird, die sie nicht abweisen kann; denn sie sind ihr durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben, die sie aber auch nicht beantworten kann; denn sie übersteigen alles Vermögen der menschlichen Vernunft“.

Shakespeare drückt sich in seiner Rachetragödie Hamlet (1604) etwas konziser aus:  „Es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde …  von denen sich eure Schulweisheiten nichts träumen lässt.“ Das Einhorn, welches in der Barberini-Ausstellung präsentiert wird, symbolisiert das Verhältnis des Menschen zu den Produkten seiner Vorstellungskraft.