49
Rezensionen
ITGG Berlin - Rezensionen
#7C9CA4
#C66A13

Kunst & Literatur

Die wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson durch Schweden

Autor*in:Selma Lagerlöf
Verlag:Die Andere Bibliothek, Berlin 2014, 705 Seiten
Rezensent*in:Monika Schoene
Datum:18.06.2025

Geschrieben hat dieses Buch die schwedische Schriftstellerin Selma Lagerlöf, die von 1858 bis 1940 lebte und 1909 als erste Frau mit dem Literatur-Nobelpreis ausgezeichnet wurde. Aufgewachsen im mittelschwedischen Värmland auf dem elterlichen Gutshof Mårbacka, wurde sie schon früh mit Märchen, Mythen, Legenden, historischen und literarischen Ereignissen vertraut gemacht. Sowohl die alten Volkserzählungen und Sagen von Värmland als auch ihr beständiges Interesse an der Literatur regten sie frühzeitig zum Schreiben an.

Bereits mit sieben Jahren stand für sie fest, Schriftstellerin zu werden, was sie auch umsetzte. Um ihren Lebensunterhalt zu verdienen, wurde sie erst einmal Lehrerin. Die Schulbehörde trat mit der Bitte an sie heran, ein erdkundliches Lesebuch über Schweden zu verfassen, das Land und Volk, Geschichte und Gegenwart anschaulich und kindgerecht schildert. Diese reizvolle Aufgabe nahm Selma gern an und reiste monatelang durch das ganze Land, studierte eingehend die Geografie und Geschichte Schwedens und schuf damit die stoffliche Grundlage ihres Buches.

Sie wählte dafür eine Form, die nicht nur allgemeinen Wissensstoff vermitteln, sondern auch ethische Themen berühren sollte. Ihre Fantasie dabei spielen lassend erfand sie eine Rahmenhandlung und veröffentlichte das Buch 1906/1907 mit dem Titel Die wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson durch Schweden.

Auf einem kleinen Bauernhof im Süden Schwedens lebt der etwa 14-jährige Nils Holgersson. Er bereitet seinen Eltern großen Kummer, denn er ist faul und bösartig gegenüber Menschen und Tieren. Eines Tages, als die Eltern zur Kirche unterwegs sind, entdeckt Nils im Haus ein Wichtelmännchen und fängt es mit einem Netz ein. Das Wichtelmännchen fleht um seine Freilassung und verspricht, Nils Wünsche zu erfüllen. Nachdem dieser zugestimmt hat, kommt ihm der Gedanke, den Wichtel weiter gefangen zu halten, um immer neue Wunscherfüllungen zu erreichen. Zur Strafe für diesen Streich wird er selbst in einen kleinen Wichtel verwandelt. Zu seinem Entsetzen nur noch daumengroß entdeckt er plötzlich, dass er die Sprache der Tiere verstehen kann.

So bekommt er die Unterhaltungen der Hoftiere mit, die seine Verwandlung mitbekommen haben und sich nun an ihm rächen wollen. Schmerzlich macht er die Erfahrung ihnen nicht mehr überlegen, sondern durch seine Winzigkeit ausgeliefert zu sein. Er hört auch mit, wie der zahme Gänserich Martin sich zur selben Zeit den Wildgänsen anschließen und mit ihnen nach Lappland fliegen will. Panisch hängt er sich an dessen Hals und versucht, den Gänserich am Abflug zu hindern. Weil er aber so klein und so leicht ist, gelingt ihm dies nicht - der Gänserich hebt mitsamt dem Jungen einfach ab.

Nils reist nun mit den Wildgänsen auf Martin, auf einem Adler, auf einem Storch, auf Krähen und auf einem Raben durch ganz Schweden. Dabei lernt er die Landesnatur, die Geschichte, die Kultur und die Städte Schwedens kennen. Zugleich erlebt er mancherlei gefährliche Abenteuer, muss sich in schwierigen Situationen entscheiden und bewährt sich dabei zunehmend.

Im Herbst geht Nils mit den Wildgänsen von Lappland aus auf die Reise Richtung Süden. Bevor sie über die Ostsee nach Pommern fliegen, machen der Gänserich Martin und Nils noch einen Abstecher auf dem elterlichen Hof. Die von Armut und Kummer um ihren verschwundenen Sohn gezeichneten Eltern erkennen den Gänserich wieder und sind erleichtert, dass ihr Sohn ihn bei seiner Flucht nicht, wie sie bisher glaubten, gestohlen hatte. Sie entschließen sich, den wohlgenährten Gänserich zu schlachten. Nils, der sich bis dahin aus Scham über seine Verwandlung versteckt hielt, erkennt ihre Absicht und will dies auf jeden Fall verhindern, denn er empfindet unterdessen eine tiefe Freundschaft zu Martin. Er überwindet seine Scham, tritt mutig vor die Eltern und kann Martin retten. In diesem Augenblick erlangt er seine natürliche Körpergröße zurück und wird wieder ein Mensch.

Während seiner Reise lernt Nils in vielen und auf den ersten Blick aussichtslosen oder moralisch kontroversen Situationen, Veräntwortung zu übernehmen und Achtung für seine Mitgeschöpfe, Menschen wie Tiere, zu entwickeln. Er erkennt die Bedeutung von Freundschaft und Liebe und trägt dazu bei, Versöhnungen zustande zu bringen. Im Verlauf seiner Reise wandelt er sich von einem widerspenstigen und faulen Nichtsnutz in einen verantwortungsbewussten, hilfsbereiten, lernbegierigen und höflichen Charakter.

Lagerlöf griff in diesem Text auch die um 1900 aktuellen Themen wie Armut, Kinderarbeit, Auswanderung sowie den damals wichtigen Kampf gegen Tuberkulose und für Volksgesundheit und Hygiene auf. Grundlegend für ihr Buch war die Idee, Schweden aus der Vogelperspektive zu schildern. Hierdurch gelang es der Autorin, weite Teile von Schweden anschaulich darzustellen. Das Originalmanuskript umfasst etwa 500 Seiten; unzählige gekürzte Übersetzungen, Filme, Opern u.v.a.m. liegen heute vor und werden weltweit gern von Groß und Klein gelesen und gehört. Da viele Episoden des Nachts angesiedelt sind, wenn die Gänse ihre Rastplätze gefunden haben und schlafen, ist kaum eine klare Trennlinie zwischen erlebter und erträumter Wirklichkeit zu ziehen. Die nächtlichen Szenen bieten Raum für Mythen und Sagen, wodurch das Werk auch den Märchen zugeordnet werden kann.