Die Menschen Dostojewskis - Tiefenpsychologische und anthropologische Aspekte
Autor*in: | Jutta Riester |
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Verlag: | V&R unipress, Göttingen 2012, 180 Seiten |
Rezensent*in: | Margarete Eisner |
Datum: | 26.05.2013 |
Der russische Schriftsteller Dostojewski (1821-1881) hat sich einmal als lebenslangen Sucher nach dem Menschen bezeichnet: „Der Mensch ist ein Geheimnis. Man muss es enträtseln, und wenn du ein ganzes Leben lang enträtseln wirst, so sage nicht, du hättest die Zeit verloren. Ich gehe diesem Geheimnis nach, weil ich ein Mensch sein will.“ (Riester S. 156)
Die Autorin, Psychologische Psychotherapeutin in Berlin, ist der Überzeugung, dass die intuitive Menschenkenntnis der Dichter von großer Bedeutung für das Verstehen des Menschen ist. Sie steht damit in der Tradition der Gründerväter der Tiefenpsychologie (Freud, Adler und Jung), die die Bedeutung der Weltliteratur für die Menschenkenntnis stets betont haben. Mit ihrer Arbeit möchte sie dazu beitragen, dass die Schätze der Literatur wieder vermehrt in den aktuellen psychologischen Diskurs aufgenommen werden.
Die Darstellung geht zentralen Fragen nach: Was einen Künstler wie Dostojewski wohl befähigt, eine solche Intensität und Tiefe des Nachdenkens und der Seelenschilderung zu erreichen, dass er als Dichter zum Lehrer anderer Wissenschaften werden konnte? Woher stammen sein Interesse am Menschen und sein Wissen um den Menschen? Und korrespondieren die Themen der Romanfiguren mit seinen persönlichen Erfahrungen? Zur Beantwortung entfaltet die Autorin ein reiches Material zum Leben Dostojewskis, zum geschichtlichen und literarischen Hintergrund des 19. Jahrhunderts und zu den von ihr untersuchten drei großen Romanen. Erhellend für den Leser sind auch die Abbildungen des Buches: zwei davon zeigen Dostojewski in unterschiedlichen Lebensphasen, weitere die Umsetzung seiner Werke in andere Bereiche der Kunst.
Dostojewski wuchs in einem Armenhospital am Rande Moskaus auf, wo sein Vater als Arzt tätig war. Dort kam er schon früh mit menschlichem Elend und mit dem Tod in Berührung. Der Vater wird als streng und geizig geschildert, legte jedoch Wert auf Bildung. Dostojewski lernte bereits mit vier Jahren lesen und schreiben und wurde ein besessener Leser. Nach Abschluss eines Ingenieurstudiums und kurzer Berufstätigkeit widmete er sich ganz seinem Wunsch, Schriftsteller zu werden. 1846 hatte er mit seinem Erstling Arme Leute sofort Erfolg.
Als prägend für sein Leben wird von der Autorin die frühe und in seinem Leben anhaltende Konfrontation mit Krankheit und Tod hervorgehoben, ferner seine Epilepsie und eine Beinahe-Hinrichtung im Alter von 28 Jahren. Erst auf dem Richtplatz wurde er zu jahrelanger Zwangsarbeit in Sibirien begnadigt. Seine Aufzeichnungen aus einem Totenhaus legen hiervon Zeugnis ab. 1859 durfte er nach St. Petersburg zurückkehren und verdiente sein Geld als Redakteur und als Autor von Erzählungen. Von jenen fünf großen Romanen, dem russischen „Pentateuch“ (Mereschkowski) (S. 52), die ihn weltberühmt machen, werden drei von der Autorin untersucht: Der Spieler (1867), Der Idiot (1868) und Rodion Raskolnikoff (1866), besser bekannt unter den Titeln Schuld und Sühne oder Verbrechen und Strafe.
Ihre Untersuchung zeigt auf, dass bei Dostojewski viele zentrale Erkenntnisse der späteren Tiefenpsychologie bereits vorhanden sind. Lange vor Sigmund Freud spricht er vom Unbewussten, lange vor Alfred Adler, dem Entdecker von Minderwertigkeitskomplexen und der Kompensation im Seelischen, erwähnt er die Polaritäten von unten und oben im Persönlichkeitsgefühl der Menschen. Dostojewski hat tiefe Kenntnis von den Widersprüchen der menschlichen Seele, schildert innere Befindlichkeiten in ihrer Funktion als Abwehrmechanismen oder beschreibt äußere, häufig sado-masochistische Beziehungsgestaltungen. Seine mit wenigen Strichen gezeichneten Typenschilderungen können es gut mit dem Extravertierten und Introvertierten von C. G. Jung aufnehmen.
Im Roman Der Spieler wartet im deutschen Kurort Roulettenburg eine Gruppe von Menschen gemeinsam, aber aus unterschiedlichen Gründen, auf eine sie erlösende Erbschaft, die sich jedoch zerschlägt. Es finden sich hier präzise und detailreiche Beschreibungen der Spielsucht, die Dostojewski aus eigener Anschauung kennt und die Riester auf vielfältige Weise aufgreift: von der Charakterologie des Hasardeurs bis zur Psychologie des Glücksspiels und der Sucht. Der Hasardeur ist ein Anhänger des Zufalls und des Wagnisses, er möchte das Schicksal herausfordern und setzt auf den Augenblick. Bei Dostojewski liest es sich so: „Ich will lieber auf russische Art ausschweifend leben oder durch das Roulett reich werden. Ich will kein Hoppe & Co werden nach fünf Generationen.“ (S. 64) Der Roman endet damit, dass der Protagonist den Entschluss, sich zu ändern, schließlich auf den nächsten Tag verschiebt: „Morgen, morgen hat alles ein Ende!“ (S. 61)
Im Werk Der Idiot, einem Liebesmelodram, richtet Riester ihr Hauptaugenmerk auf Nastasja, eine der beiden weiblichen Protagonistinnen. Die bildschöne, gebildete Nastasja, die früh ihre Eltern verlor und von ihrem Förderer in der Pubertät sexuell missbraucht wurde, wird von Dostojewski als eine schillernde Persönlichkeit gezeichnet, als eine Art femme fatale. Sie wird in ihrer inneren Zerrissenheit, in ihrem Schwanken zwischen unnahbarem Stolz und Selbstzerstörung, höchst eindrucksvoll geschildert. Die Autorin untersucht sorgfältig ihre Persönlichkeitsmerkmale. Um Einseitigkeiten und Missdeutungen aus heutiger Sicht zu vermeiden, lässt sie Nastasja Patientin von Freud, Adler und Jung, ihren Beinahe-Zeitgenossen, werden und überlegt, wie diese die Persönlichkeit Nastasjas gesehen hätten.
Mit seinem außerordentlichen Verständnis für die Entstehung von Delinquenz hat Dostojewski einen nicht unerheblichen Beitrag zur modernen Kriminologie geleistet. Im Werk Rodion Raskolnikoff bzw. Schuld und Sühne wird die Persönlichkeit eines Verbrechers in ihrer Zwiespältigkeit der bewussten und unbewussten Anteile dargestellt und mit den Auffassungen Alfred Adlers zur Psychologie des Straftäters verglichen. Zusätzlich wird Raskolnikoff (russ. Raskol, bedeutet Abspaltung) in seinem Wertekonflikt (N. Hartmann) gezeigt. Als ein Beispiel für Dostojewskis umfassende psychologische Intuition, die auch die Lebensgeschichte und die Träume von Raskolnikoff einbezieht, sei auf folgende Stelle hingewiesen: Als sich Raskolnikoff auf den Weg macht, seine Mordpläne auszuführen, befällt ihn starkes Herzklopfen. (S. 106) Adler sieht darin einen Ausdruck des letztlich nicht völlig zu unterdrückenden sozialen Gefühls, das die Verbundenheit der Menschen untereinander herstellt und das sich vor der verbrecherischen Tat warnend meldet. Wörtlich schreibt er: „In diesem Herzklopfen spricht die Logik des menschlichen Lebens …“ (Adler 1920, S. 284)
Dostojewski ist modern mit seiner Frage nach dem Menschen. Zu seiner Zeit, im 19. Jahrhundert, suchte man nach der Standortbestimmung des Menschen, indem man die Geschichte befragte. Erst für das 20. Jahrhundert gilt: Was der Mensch ist, erfährt er aus der Anthropologie. Hierher gehört Dostojewskis Wort, dass Biene und Ameise ihre Formel kennen, der Mensch aber kenne seine Formel nicht. (S. 147) Es mache die Verlorenheit des Menschen, aber auch seine Entwicklungsmöglichkeiten aus, dass er kein vorprogrammiertes Wesen sei. Riester zeigt auf, dass die Menschen Dostojewskis häufig unterwegs und unfertig sind, sie suchen Grenzerfahrungen und irren sich zwangsläufig, wobei Dostojewski anmerkt: „Ein Irrtum ist eine schöne Sache, denn der Irrtum führt zur Wahrheit.“ (S. 160) Dostojewski habe nach der Wahrheit jedes Einzelnen gesucht, denn sein genauer Blick erkannte: „Es gibt doch gar keinen allgemeinen Fall …“ (S. 152)
Den Abschluss der Arbeit bildet die Sicht namhafter Psychologen, Psychiater und Schriftsteller auf Dostojewski als Psychologen. Seine Wertschätzung ist allgemein: Nietzsche zählte es „zu den schönsten Glücksfällen“ seines Lebens, auf ihn gestoßen zu sein, Adler rühmte ihn als einen seiner wichtigsten Lehrmeister (S. 149), Josef Rattner nennt ihn einen Meisterpsychologen (S. 159). Gegen den Ethiker Dostojewski und seine weltanschaulichen Positionen gibt es jedoch Einwände, so beispielsweise bei Freud und Rattner. Letzterer bescheinigt ihm aber, dass er alle Härten seines Daseins annahm und aus seinen schlimmen Erfahrungen zeitüberdauernde Kunstwerke schuf. Er habe nie seinen Forschergeist verloren und die Kenntnis des (gefährdeten) Menschen enorm ausgeweitet. (S. 158) 1918 schrieb Adler: „Was Dostojewski als Psychologe geleistet hat, ist heute noch unausgeschöpft.“ (S. 149) Fast einhundert Jahre später hat die Autorin mit ihrem Buch Adlers Hinweis aufs Schönste aufgegriffen.