Der Schimmelreiter
Autor*in: | Theodor Storm |
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Verlag: | Deutsche Grammophon 2017 |
Rezensent*in: | Matthias Voigt |
Datum: | 26.02.2025 |
Hatte man als Kind eine Erkältung, gehörte zur Regel-Therapie eine Mutter oder ein Vater, die einem vorlasen. Ein ordentlicher Virusinfekt zu Beginn der Winterferien aktualisierte bei mir nun diese Erinnerung und damit den Wunsch nach einer Geschichte - in meinem Falle die Entdeckung des Erzählers Theodor Storm, eines Husumer Amtsgerichtspräsidenten, dessen Künste es fertigbringen, eine ganze Welt sicht- und hörbar werden zu lassen. Ich glaube besonders an Letzteres: Den Schimmelreiter (seine bekannteste Erzählung) sollte man gehört haben! Denn über unser Gehör dringt die Wirklichkeit am ungehindertsten vor die Seele. Und wenn der Vorleser dann auch noch Gert Westphal ist, glaubt man den Erzähler selbst zu vernehmen.
Dem Autor des Schimmelreiter wurde bisweilen Heimattümelei mit einem Einschlag von „Blut und Boden“ angekreidet. Doch meiner Ansicht nach wird man damit diesem Dichter nicht gerecht. In seiner Erzählung geht es ihm vielmehr um das Verhältnis von Natur und Kultur, von mythologischem Empfinden und aufgeklärtem Denken, von nordfriesischer Tradition und technischer Moderne.
Gert Westphal erzählt uns mit dem Schimmelreiter-Hörbuch die Geschichte einer tödlich endenden Rivalität. Hauke Haien tritt als Kleinknecht in die Dienste des alten Deichgrafen, wo lange vor ihm schon Ole Peters, einer von ganz unten, das Amt eines Großknechts innehatte. Hauke ist der Sohn eines verwitweten Landvermessers; ohne Mutter aufgewachsen lebt er abgesondert vornehmlich in einer bloßen Beobachter-Rolle. Er empfindet angesichts der Gewalt des Meeres nicht den Schauer, der die Seele seiner meisten Mitmenschen erfasst, denen es als frevelhaft gilt, mit den dämonischen Mächten zu spielen. Für sein aufgeklärtes Bewusstsein ist die Brandung lediglich ein interessantes Phänomen, dem er dessen physikalische Gesetzmäßigkeiten abzulauschen versucht.
Es kann hier nicht im Detail erläutert werden, wie seit dem Mittelalter die Friesen in ständiger Bedrohung durch die Naturgewalt des Meeres ihre Siedlungsweisen auf vormaligem Meeresboden, den Marschen, entwickelt haben. Mit teilweise raffinierten Strategien rangen sie der widrigen Natur immer wieder festes Land und damit die Grundlagen der eigenen Identitität ab. Im Laufe der Jahrhunderte mussten die Friesen lernen, den Phänomenen der Natur und des Meeres standzuhalten, das wiederholt ungehemmt über alles hinwegging, was sich ihm in den Wege stellte. Die Erzählung des Schimmelreiter berichtet nun von den dortigen Eigenarten menschlicher Seinsweise in einer stets gefährdeten Welt, in der ein jeder auf jeden existenziell angewiesen war.
Von der heutigen Moderne unterschied sich diese Welt insofern, als in ihr ein alle verbindender Mythos noch unbestritten Geltung besaß. Mythologisch heißt eine Seinsbeziehung, wenn eine Gruppe von Menschen ihr Verhältnis untereinander, aber auch zu den Dingen und Sachverhalten der unbelebten und belebten Natur so behandelt, als seien sie beseelt, fähig zu empfinden oder sogar zu fühlen wie wir Menschen. Das mythologische Verhältnis zur Umwelt ist keines der rationalen Erkenntnis, sondern ein praktisches. Diese Praxis verwandelt alles in seelisches Sein. Darin gibt es noch kein Ich-Bewusstsein, das wie das unsere sich einer fremden Welt gegenübergestellt sieht. Dieses Bewusstsein erlebt sich getrennt von den Dingen, die ihm als fremde Objekte erscheinen. Der im Mythos beheimatete Mensch dagegen fühlt sich mit allem durch ein Band der Sympathie verknüpft.
Hauke Haien als junger Deichgraf, der den innovativen Entwurf und Bau eines neuen Deiches beaufsichtigen und verantworten soll, wird dabei mit den mythisch-mystischen Vorstellungen, Ängsten und Verhaltensweisen seiner Mitstreiter konfrontiert. Diese sind überzeugt, dass am kritischen Punkt des Deichbaus ein Lebendopfer erforderlich ist, und so kommt es, dass ein streunender Hund in die Baugrube geworfen wird. Es verheißt den meisten Umstehenden Unheil, als der neue Deichgraf sich dem Tribut an den Aberglauben widersetzt, eigenhändig das Tier rettet und es zu sich nimmt.
Hauke Haien scheitert zum Schluss nicht nur am Aberglauben der unaufgeklärten Mitmenschen, die sein neuartiges Deichprofil anfangs ablehnen und es darüber hinaus als unheilvolles Zeichen interpretieren, wie er mit dem Tieropfer umgegangen ist. Daneben kann er in jenen Situationen kaum um Hilfe und Unterstützung werben, in denen er auf das Entgegenkommen seiner Mitstreiter angewiesen wäre. Dies macht sich auf tragische Weise bemerkbar, als er angesichts des entfesselten Meeres in Panik verfällt - die sich noch steigert, als er mit ansehen muss, wie seine Frau und Tochter, ihm zuhilfe eilend, in den Fluten versinken. Mit brutaler Gewalt rammt er in diesem Moment seinem Schimmel die Sporen in die Seiten und zwingt ihn zum Sprung in den tosenden Abgrund. Der Erzähler lässt ihn dabei Worte ausrufen, die ihrerseits nicht frei von abergläubischer Überzeugung sind: "Nimm mich und verschone die anderen!"