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Kunst & Literatur

Das Trauerspiel von Afghanistan

Autor*in:Theodor Fontane
Verlag:J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger, 1858 / 1905
Rezensent*in:Monika Schoene
Datum:16.04.2025

Der vielseitige Theodor Fontane war von 1855 bis 1859 als Auslandskorrespondent der Preußischen Zentralstelle für Presseangelegenheiten in London tätig. Seine Aufgabe war es, politische Korrespondenz und Feuilletonbeiträge für die konservative Preußische (Kreuz-)Zeitung nach Berlin zu liefern. Nebenher beschäftigte er sich mit der Schriftstellerei.

In diesen Zeitraum fiel der Sepoy-Aufstand in Indien (1857), der von den Briten niedergeschlagen wurde. Ausgehend von diesem Ereignis lenkte Fontane seinen Blick auf weiter zurückliegende Themen der englischen Geschichte. Anfang des 19. Jahrhunderts geriet Afghanistan in den Sog der Weltmachtpolitik des britischen Empires und des zaristischen Russlands. Es war die Regierungszeit von Queen Viktoria I. und Zar Nikolaus.

Den Zaren drängte es nach Indien, doch davor lag das strategisch wichtige Afghanistan. Ein geopolitisches Machtspiel bahnte sich an. Die Russen mussten vor Indien aufgehalten werden. 1839 marschierten die Briten von Süden in Afghanistan ein und setzten sich in Kabul fest. Der erste von drei anglo-afghanischen Kriegen (1839-1842) begann. Im Herbst 1841 leisteten die Afghanen erfolgreich Widerstand und bewirkten im Januar 1842 den Abzug der britischen Garnison aus Kabul.

Das 150 Kilometer entfernte Dschellabad war noch in britischer Hand. Von dort warnte General Sale, besser in Kabul noch auszuharren, denn bei heftigstem Wintereinbruch seien die unübersichtlichen örtlichen Gegebenheiten kaum zu überwinden. Die britische Armee, inklusive zivilem Tross mit Frauen und Kindern (mehr als 13.000 Menschen), machten sich dennoch auf den Weg. Ein von den Afghanen zugesagter sicherer Fluchtkorridor wurde bereits im Tal von Kabul durchbrochen und ein grausames Massaker angerichtet. Dem britischen Arzt Major Dr. William Brydon (1811-1873) gelang es, bis nach Dschellalabad durchzukommen und Kunde von der Katastrophe zu überbringen. Für die britische Weltmacht war es die erste Niederlage in ihrer Kolonialgeschichte und damit eine große Demütigung.

Dieses Ereignis greift Theodor Fontane auf. Im Mai 1858 findet sich In seinem Tagebuch der Eintrag: gearbeitet, Das Trauerspiel von Afghanistan. Der Titel Das Trauerspiel von Afghanistan ist abgeleitet von dem sogenannten Great Game, dem geopolitischen Ringen zwischen Briten und Russen um Zentralasien, wo Länder und Menschen wie Schachfiguren hin und her geschoben wurden. Mit der militärischen Niederlage vom Januar 1842 wandelte sich das „Große Spiel“ für die Briten in ein „Trauerspiel“ um.

Da huben sie an und sie wurden's nicht müd, / Durch die Nacht hin klang es Lied um Lied, / Erst englische Lieder mit fröhlichem Klang, / Dann Hochlandslieder wie Klagegesang. / Sie bliesen die Nacht und über den Tag, / Laut, wie nur die Liebe rufen mag, / Sie bliesen - es kam die zweite Nacht, / Umsonst, dass ihr ruft, umsonst, dass ihr wacht. / Die hören sollen, sie hören nicht mehr, / Vernichtet ist das ganze Heer, / Mit dreizehntausend der Zug begann, / Einer kam heim aus Afghanistan.

Die Ballade preist scheinbar den Heldenmut des auf verlorenem Posten ausharrenden Offiziers Sire Robert Sale. Aber schon das Wort „Trauerspiel" im Titel symbolisiert ein Unglück, eine Trauer und einen Verlust; und darüber hinaus ein politisches Spiel, dessentwegen die Menschen vergeblich sterben.

Fontane bemühte sich getreulich, die unglückliche Situation zu beschreiben. Er fühlt sich in der Ballade in die Sorgen der auf Angehörige und Freunde in Dschellalabad Wartenden ein. Er schildert den Soldaten, der als einziger von den 13.000 Menschen nachts, trotz Kälte und dichtem Schneefall, in dem unwägbaren Gelände das Ziel erreicht. Die schreckliche Kunde übermittelnd und Hilfe für die Zurückgebliebenen ersuchend wird ihm Schutz und Zuwendung gewährt. Die Rettungsversuche für die anderen muten hilflos an. Der fatalen Wetterverhältnisse wegen versuchen die Soldaten, den noch Umherirrenden durch fortwährendes Singen und Trompeten, das Zufluchtsziel zu verkünden. Sie wissen nicht, dass sie keiner mehr hört, keiner mehr kommt – alle sind tot. Mit dreizehntausend der Zug begann, Einer kam heim aus Afghanistan.

Tragisch finde ich die Aktualität der Ballade, denn das Great Game wird in vielen Teilen der Welt fortgesetzt. Weiterhin führen Kämpfe um Zugangswege zu Rohstoffvorkommen, schnelleren Transportmöglichkeiten, Vorrangstellung in Handelsbeziehungen und religiöse Einstellungen zu Kriegen. Menschen aus aktuellen Kriegsgebieten suchen auch in Deutschland Schutz und Sicherheit. Doch auch hier wird die militärische Bedrohung zunehmend thematisiert und der Ruf nach Aufrüstung zur Verteidigung immer lauter. Eine bedrückende Situation.

Das Gedicht wurde im Literatenverein Tunnel über der Spree am 09.04.1859 vorgetragen und 1860 in der Argo (Album für Kunst und Dichtung, Dessau) zuerst gedruckt. Nina Hagen (2001) und Franz Josef Degenhardt haben es jeweils vertont (YouTube).