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Rezensionen
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Kunst & Literatur

Das andere Leben

Autor*in:Juri Trifonow
Rezensent*in:Babette Kozlik-Voigt
Datum:10.09.2024

Der ehemalige Intendant des WDR, Fritz Pleitgen (1938-2022), berichtete über seine 1970er Jahre als Korrespondent in Moskau, es sei ihm nur mit List gelungen, die alltäglichen Probleme in der UdSSR zu filmen, um sie im Westfernsehen zeigen zu können. Über die Verbindung zu Lew Kopelew bekam er Kontakte zu anderen Intellektuellen, die er nun interviewen konnte. So brachte Pleitgen anhand ihrer Essays, Novellen oder Romane das triste Bild des Sowjetalltags mit all den Sorgen der Bevölkerung unbemerkt durch die Zensur.

Während im Westen bislang zum russischen Literaturkanon Tolstoi, Gogol, Dostojewski, Tschechow, Puschkin oder Turgenjew zählten, wurden durch dieses trickreiche Manöver regimekritische Schriftsteller und deren Prosa bekannt. Es war schließlich Heinrich Böll, der in der ausklingenden Studentenbewegung 1976/77 versuchte, Texten von Andersdenkenden Gehör zu verschaffen. Dazu gehörten z.B. Solschenizyn, Lew Kopelew, Wolf Biermann und eben auch Trifonow.

Laut Wikipedia war Juri Trifonow (1925-1981) ein Vertreter der sogenannten sowjetischen „städtischen Prosa“, einer Bewegung der 1970er Jahre, die sich mit ihren „psychologisch komplexen Darstellungen“ gegen die dogmatische und von Willkür geprägte Bürokratie wendeten. Man könne in Trifonows Novellen „die gesamte sowjetische Kultur studieren“. In seinen Dramen verarbeitet Trifonow unter anderem die tragische Geschichte seines Vaters, eines Alt-Bolschewiken, der während der stalinistischen Säuberungen als sogenannter Konterrevolutionär umgebracht wurde.

Juri Trifonow schreibt über das Erlebte nicht als Enthüllungsschriftsteller, aber er wird auch kein systemloyaler Autor. Er umgeht die heiklen politischen Themen, indem er eine private Liebes- und Ehegeschichte mit ihren zwischenmenschlichen Konflikten erzählt. Mit differenziert-psychologischen Beschreibungen emotionaler Zustände ohne systemkritische Anklänge gelingt es ihm, die behördliche Zensur zu umgehen und doch gegen den bestehenden politischen Konformismus zu rebellieren. Er führt mit seinen Schilderungen den Lebensalltag der Moskauer Intellektuellen der 1970er Jahre vor Augen. Einem breiten Publikum eröffnen sich mit seinen Romanen Welten; das war ihr alltägliches Leben, ihre Wirklichkeit. Auf diese Weise kann Trifonow die Menschen erreichen und die offizielle Sowjet- Propaganda demaskieren.

Das andere Leben, erstmals 1975 in deutscher Übersetzung erschienen, ist exemplarisch für Trifonows Schreibstil. Im Zentrum der Erzählung steht Olga Wassiljewna, eine vierzigjährige Witwe. Die ersten Sätze der Geschichte ziehen uns in ihre verzweifelte Stimmung über das zerronnene Leben: Und wieder erwachte sie mitten in der Nacht, so wie sie jetzt jede Nacht aufwachte…Aber das, was sie weckte, forderte beharrlich: versuch zu begreifen, es muss doch ein Sinn sein, es muss Schuldige geben… Schlaflos wird Olga vom Schmerz, Erinnerungen und latenten Schuldgefühlen gequält, die sie am Tag vertuscht. Keiner sollte es bemerken, weder am Arbeitsplatz noch zu Hause

Olgas Mann Serjosha, ein Historiker, ist vor einigen Monaten an Herzversagen gestorben. In Rückblenden erfahren wir die Geschichte ihrer nicht immer harmonischen Ehe, denn nach kurzer Zeit des Glücks kommt es zunehmend zur Entfremdung der beiden. Verliebt hatte sie sich in den unernsten Serjosha, den liebenswerten Kindskopf, der das Leben scheinbar so leichtnimmt. Während er immer häufiger Zuflucht im Alleinsein nimmt, klammert sich Olga in unsinniger Eifersucht an ihn. In Trifonows Schilderungen wird zunehmend deutlich, dass die Beiden im sowjetischen Moskau eine konventionell-bürgerliche Ehe führen, weit entfernt von propagierter Autonomie und Emanzipation. Während sich der Ehemann mürrisch entzieht, sucht sie, eine robuste, klardenkende Frau, verstärkt symbiotische Nähe und leidet in selbstverleugnender Abhängigkeit. Er musste immer an ihrer Seite oder in der Nähe sein, am besten im selben Zimmer. Zwischendurch verschwand er einfach, dann wurde sie krank. Manchmal bekam sie sogar Nesselfieber. So wird er wird für sie immer unerreichbarer und sein Verhalten, aber auch ihre eigenen Gefühle werden ihr im täglichen Miteinander immer unverständlicher. Und sie liebte ihn trotzdem, vergab ihm, forderte nichts.

So ist dieser kleine Roman zu lesen als Umgang mit dem Verlust und der Trauer um einen geliebten Menschen. Trifonow gestaltet literarisch, was Freud in seiner Abhandlung Trauer und Melancholie behandelte: die Frage nach der Grenze zwischen Trauer und pathologischer Depression. Es sind überwiegend Erinnerungen, mit denen sich Olga konfrontiert und die sie auf ihre Weise durcharbeitet. Um sich innerlich abzulösen, leistet sie das, was Freud Trauerarbeit nennt. Olgas bisheriges Leben steht auf dem Prüfstand: Das ehemals gemeinsame Leben muss von einem neuen Leben abgelöst werden, damit Das andere Leben möglich werden kann.

Allerdings ist neben dieser privaten Sphäre zunehmend eine andere Dimension zu ahnen, die für die Beteiligten undurchschaubar ist und sie in unentwirrbaren Fäden zappeln lässt. Wer als Leser über die psychologische Dynamik hinaus zu lesen vermag, der wird vom real existierenden Sozialismus der Sowjetunion lesen und es wird klar, was mit ihm nicht stimmt und wie in dem System ein Mensch an den Bedingungen zerbricht. Es ist ein Roman darüber, wie ein Mensch seiner Möglichkeiten beraubt wird.

Denn Serjosha verstrickt und verausgabt sich in zunehmend in Konflikten und Rivalitäten mit systemtreu-zielbewussten Institutskollegen, die kompromissbereiter und geschickter als er mit den Vorgesetzten umgehen können. Der verbummelte Doktorand wird lästig, denn er wühlt immer unnachgiebiger und verbissener in der russischen Geschichte, aber keiner will von seinen Untersuchungen über den zaristischen Geheimdienst Russlands hören; Serjosha wird schließlich über seinem ausbleibenden wissenschaftlichen Erfolg verzweifeln. Am Ende ist er tief zerrissen; isoliert wendet sich in seiner Not sogar der Parapsychologie zu, während Olga, die Naturwissenschaftlerin, diesem Weg so gar nicht folgen kann. Sie spürt zwar, dass seine bislang vermeintlich autarke Position nur vorgeschobene Pose ist. Sie kann das aber nicht ansprechen, ohne ihn zu verletzen und schweigt.

Schließlich macht sein Herz nicht mehr mit.