Blumen für Algernon
Autor*in: | Daniel Keyes |
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Verlag: | Hobbit Presse Klett-Cotta, Stuttgart 2006, 304 Seiten |
Rezensent*in: | Monika Schoene |
Datum: | 13.01.2025 |
Auf der Suche nach einem Beitrag zum Stichwort „Science Fiktion“ entdeckte ich den Roman Blumen für Algernon, der bereits 1966 von dem amerikanischen Schriftsteller und Psychologen Daniel Keyes veröffentlicht wurde. Die spannende und erschütternde Geschichte eines geistig zurückgebliebenen Mannes, der durch eine Operation eine überragende Intelligenz erlangt, ist in Form von täglichen Fortschrittsberichten geschrieben. Der Leser erhält einen direkten Einblick in dessen Welt und kann seine intellektuelle und emotionale Entwicklung hautnah miterleben. Besonders eindrucksvoll dabei ist die Veränderung seiner Ausdrucksweise. Anfangs ist es für den Leser eine Herausforderung, denn er schreibt viele Einträge fehlerhaft, nur wie akustisch wahrgenommen. Später beinhalten sie hochkomplexe intellektuelle Gedanken und Reflexionen.
Die Hauptperson des Romans ist Charlie Gordon, ein 32 Jahre alter Mann, der in der geistigen Entwicklung als zurückgeblieben gilt. In New York arbeitet er in einer Bäckerei als Reinigungskraft. Ermöglicht hat ihm dies sein Onkel Hermann, der verhinderte, dass Charlie von seiner Mutter in ein geschlossenes Heim für geistig Behinderte eingewiesen wird.
Etwa 17 Jahre nach Eintritt in die Bäckerei hört eine Kollegin zufällig mit, wie Charlie sich wünscht, Lesen und Schreiben lernen zu wollen. Während ihn die Kollegen verlachen, ermutigt sie ihn, eine Schule für retardierte Erwachsene zu besuchen. Um sein Ziel zu erreichen, geht er drei Mal wöchentlich zu dieser Schule.
Mit seinem netten Wesen und seiner Leistungsfähigkeit fällt er der Lehrerin Miss Kinnian auf. Sie empfiehlt Charlie, sich für ein Forschungsprojekt zu bewerben. Ziel des Experiments ist es, mittels einer Operation und eines Medikaments die Intelligenz beim Menschen dreifach zu steigern. Bisher erfolgreich nur an einer Maus erprobt, weisen die Wissenschaftler Charlie auf die Risiken der Operation am Gehirn hin. Charlie, der unbedingt intelligent werden will, erklärt sich bereit mitzuarbeiten. Das Experiment muss geheim bleiben. Der Bäckerei soll er als krank gemeldet fernbleiben.
In verschiedenen Versuchsreihen wird er auf die Operation vorbereitet. Er versteht nicht, worum es dabei geht, lässt sich aber wegen des verlockenden Zieles, intelligent werden zu können, auf alle Anforderungen ein. Den Höhepunkt der Tests bildet ein Wettlauf mit der bereits erfolgreich operierten Maus „Algernon“. Während diese in einem Labyrinth-Kasten den Weg vom Start zum Ziel immer schnell und sicher findet, gelingt dies Charlie mit einem Stift in einem Papp-Labyrinth nie. Er bleibt der Maus unterlegen. Die Wissenschaftler, seine Eignung nicht offen anzweifelnd, verfolgen unbeirrt ihr Ziel. Charlie ist frustriert, er will in die vertraute Bäckerei zurück. Die Forscher stimmen dem unter der Bedingung zu, dass er täglich nach der Arbeit zu weiteren Tests in das Labor kommt und dabei kontinuierlich Fortschrittsberichte schreibt.
Charlies Intelligenz entwickelt sich nicht. Verzweifelt bleibt er dem Labor fern. Die Forscher spüren ihn in seiner Wohnung auf und verlangen für ihren Zweck seine Mitarbeit. Der Wettlauf mit der Maus wird offiziell abgebrochen. Sie überlassen ihm eine Lehrmaschine, die er vor dem Schlafengehen zu aktivieren hat und die Nacht über laufen soll. Sie versichern ihm Erfolg, er müsse ihnen nur vertrauen und die geforderten Aufgaben erfüllen. Er willigt ein. Zusätzlich wird Charlie in der psychologischen Abteilung betreut. Allmählich erinnert er seine Träume und Kindheitserfahrungen. Er lernt aufzuschreiben, was er denkt, beobachtet, erkennt und fühlt, dies anfänglich genau in der Weise wie er spricht, mit allen Fehlern. Dem Leser eröffnen sich die Hintergründe seiner Entwicklungsgeschichte und seiner aktuellen Lebenssituation.
Die Fortschrittsberichte beginnen am 3. März. Am 29. März findet sich der Eintrag: „endlich den Wettlauf mit der Maus Algernon gewonnen“. Dem ging heimliches Üben mit der Labyrinth-Vorlage voraus. Von dem Erfolg motiviert und von Miss Kinnian gefördert, lernt er in kürzester Zeit gut zu lesen. Über die Bücher erwirbt er Kenntnisse in allen Bereichen, lernt mehrere Sprachen, kann kniffligste mathematische und wirtschaftliche Vorgänge, psychologische und philosophische Inhalte verstehen und anwenden. Seine Intelligenz steigert sich so weit, dass er sich zutraut, wissenschaftliche Berichte zu veröffentlichen. Die Forscher kann er mit seinem Wissen beschämen.
Mitte Juni wird das Experiment in Chicago einem Fachpublikum vorgestellt. Charlie und die Maus sind anwesend. Die Besucher richten Fragen aus allen möglichen Bereichen an ihn, die er sachkundig beantwortet. Bei der Frage, ob Charlie die Gründe seiner eigenen Retardation angeben könne, verweist er auf die begleitenden Wissenschaftler. Stolz sind deren schwärmerische Ausführungen über die Ergebnisse ihrer Studie. Charlie unterbricht mit einer Frage. Er möchte wissen, ob den Professoren der kürzlich erschienene Bericht eines indisch-japanischen Forscherteams bekannt sei, der die vorgetragenen Untersuchungsmethode als unzureichend angreift und Ergänzungen fordert. Ein Professor verneint irritiert und wehrt herablassend diese Studie ab. Seine absurd klingende Begründung: Forschungsleistungen der USA und Großbritanniens würden bei Weitem die von Indien und Japan übertreffen. Der andere Professor bagatellisiert die Studie ebenfalls. Beiden Professoren fehlen jedoch – im Gegensatz zu Charlie – Kenntnisse der Hindu- und japanischen Sprache.
Charlies Wissen ist unterdessen so umfänglich, dass er große Mängel im Forschungsprozess erkennt. Er wirft den Professoren vor, die Operation zu einem wenig gesicherten Zeitpunkt, unwissenschaftlich und leichtfertig durchgeführt zu haben. Die Professoren sind für ihn nur noch erfolgsorientierte Macher, Männer, die blindlings vor sich hinarbeiteten und sich anmaßen, ohne wissenschaftliche Standards Versuche an Menschen leichtfertig zu wagen.
Besonders beschämend empfindet er, dass die Filme von seinen ersten Besuchen im Labor und bei den Testverläufen ohne seine Zustimmung im Kongress öffentlich gezeigt werden. Die begleitenden Ausführungen der Professoren beweisen ihm, dass sie ihn als reines Testobjekt mit einer Maus gleichgestellt haben. Seine Hinweise lassen sie unberücksichtigt und verfolgen unbeirrt ihr Ziel, das Projekt Charlie als erfolgreiches Ergebnis ihrer Studie im Kongress zu präsentieren.
Zufällig erfährt er, dass die Maus Algernon sich rückentwickelt habe. Zutiefst enttäuscht öffnet er deren Käfig und löst ein großes Durcheinander bei den Forschern und im Publikum aus. Charlie kann die Maus einfangen, er fliegt mit ihr nach New York zurück. Dort lebt er zurückgezogen mit Algernon in einer kleinen Wohnung und widmet sich weiterhin seinen Studien.
Über die Begegnungen mit einer ausgeflippten Nachbarin, die an Charlies hilfsbereitem und vorsichtigen Verhalten Gefallen findet, werden andere Lebensgenüsse geweckt. Gleichzeitig kontaktiert er seine Lehrerin Miss Kinnian, in die er sich verliebt hatte. In seinen Berichten beschreibt er intime Situationen, aus denen seine Angst vor Frauen ableitbar ist. Mit der flippigen Nachbarin kann er sich nicht sexuell entfalten. Ihm steht das Bild Miss Kinnians vor Augen. Kommt er jedoch Miss Kinnian näher, schreckt er im letzten Moment zurück. Die Zuneigung zwischen Miss Kinnian und ihm bleibt dennoch stabil. Im Austausch erkennen sie, dass beide auf ihre Art der sexuellen Situation zurzeit noch nicht gewachsen sind.
Bei der Maus Algernon mehren sich die Symptome des Rückgangs der Intelligenz. Sie wird körperlich schwächer und verstirbt. Betroffen begräbt Charlie die Maus Algernon hinter dem Haus. Ihr Grab schmückt er mit Blumen. Charlies erworbene Fähigkeiten reduzieren sich nun ebenfalls Tag für Tag spürbar. Weder Operation noch Medikament wirken nachhaltig. Er kehrt an den Arbeitsplatz in der ihm vertrauten Bäckerei zurück. Sein mentales Niveau sinkt deutlich auf das eines Kleinkindes ab. Die Kollegen verhalten sich ihm gegenüber mitleidig. Diesem will er sich nicht mehr aussetzen und geht freiwillig in das Heim für geistig behinderte Menschen.
Das Thema des Buches, die Verbindung zwischen Intelligenz und menschlichem Wert, ist sowohl bewegend als auch problematisch dargestellt. Charlie, der zu Beginn der Geschichte einen IQ von 68 hat, ist in der Gesellschaft weitgehend unsichtbar, wird oft verspottet und ist isoliert. Mit dem Experiment, das ihm Zugang zu umfassenderer Intelligenz verschafft, verändert sich seine Welt grundlegend. Doch je intelligenter Charlie wird, desto mehr erkennt er die emotionale Leere und die sozialen Barrieren, die ihn weiterhin von seinen Mitmenschen trennen. Hier stellt das Buch, besonders im Zeitalter der Entwicklung von KI, eine wichtige Frage über die Bedeutung von Intelligenz in unserer Gesellschaft.
Ein besonders tragischer Aspekt des Buches ist Charlies zunehmende Isolation im Zuge seiner Intelligenzsteigerung. Wo er sich zu Beginn der Geschichte noch von seinen „Freunden“ in der Bäckerei umgeben fühlt – auch wenn diese ihn oft ausnutzen und verspotten –, entfernt sich Charlie nach dem Experiment immer weiter von den Menschen in seinem Umfeld. Zunächst wird er von denjenigen entfremdet, die ihn aufgrund seiner geistigen Behinderung herablassend behandeln, doch später ist es seine überragende Intelligenz, die ihn isoliert. Seine neuen kognitiven Fähigkeiten machen es ihm schwer, emotionale Verbindungen aufrechtzuerhalten
Ein weiteres zentrales Motiv des Buches ist das Experiment selbst, das Charlie und die Maus Algernon durchlaufen. Keyes thematisiert hier die Frage, inwieweit Wissenschaft und Forschung das Recht haben, in die Natur des Menschen einzugreifen. Das Experiment, das zunächst als Durchbruch in der Medizin gefeiert wird, endet schließlich in einer Tragödie. Hier zeigt sich deutliche Kritik an einer Wissenschaft, die ethische Grenzen ignoriert und den Menschen als bloßes Versuchsobjekt betrachtet. Es ist nicht nur Charlies intellektuelle Entwicklung, die im Zentrum steht, sondern auch sein Leiden an der Isolation.
Der Roman Blumen für Algernon fordert den Leser auf, Empathie für Charlie in seinem Zustand der geistigen Behinderung zu empfinden. Gleichzeitig wirft er zentrale Fragen über Intelligenz, Menschlichkeit und den Wert des Einzelnen in der Gesellschaft auf. Es ist eine Geschichte von Hoffnung, Verzweiflung und der Suche nach Identität, die auch Jahrzehnte nach ihrer Veröffentlichung nichts von ihrer Relevanz verloren hat.