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Rezensionen
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Kunst & Literatur

1913 – Der Sommer des Jahrhunderts

Autor*in:Florian Illies
Verlag:S. Fischer-Verlag, Frankfurt am Main 2012, 319 Seiten
Rezensent*in:Barbara Gucek
Datum:15.08.2013

Der 1971 geborene Buchautor, Journalist und Kunsthistoriker Florian Illies hat ein Buch mit dem Titel: 1913 - Der Sommer des Jahrhunderts geschrieben. Bekannt geworden war Illies schon im Jahre 2000 durch den Bestseller Generation Golf.

Sein neuestes Buch beinhaltet Ereignisse, die ein Jahr vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges stattfanden. Die dargestellten Vorgänge stammen meist aus kulturellen Bereichen, aber es werden auch Tagesgeschehnisse oder Politisches erwähnt. Das Erzählte wird in zwölf Kapiteln, entsprechend der Zahl der Monate eines Jahres, arrangiert. Meist sind es längere Texte, mitunter bestehen sie aber nur aus einem Satz, wie Rainer Maria Rilke hat Schnupfen (Illies, S.85). Eindrücklich ist Illies’ klare, wie in Stein gemeißelte Sprache. Trotz aller Klarheit klingt das Geschriebene auf eine wundersame Weise leicht und locker.

Der Reiz des Buches besteht darin, dass zahlreiche Genies aus Kunst, Literatur und Musik vorgestellt werden. Das Lesepublikum bekommt u.a. Einblicke in das Leben von Franz Marc, Pablo Picasso, Camille Claudel, Thomas Mann, Sigmund Freud, Franz Kafka und Arnold Schönberg. Durch die dargestellten Liebesbeziehungen wie die der Paare Oskar Kokoschka und Alma Mahler, Franz Kafka und Alice Bauer oder Karl Kraus und Sidonie von Nadhérny, an der auch Rilke interessiert war, werden wir Mitwisser von Leidenschaften, Eifersuchtsattacken und krankhaften Ambivalenzen.

Von Picasso erfahren wir, dass er und seine Freundin am 10.3.1913 der Großstadt entflohen, um endlich arbeiten zu können. Sie atmeten tief durch, als sie den Bergort erreichten, setzten sich in das Straßencafé und genossen einen Kaffee, als die Sonne frühlingshaft zu glühen begann. (S.92) Während Picasso sich in Cerét zu erholen versuchte, unternahm Kasimir Malewitsch ebenfalls im Frühjahr in Moskau einen Spaziergang…Der Maler alarmierte zuvor die Zeitungen der Stadt, so dass über seinen provozierenden Spaziergang empört berichtet wurde. Die Provokation bestand darin, dass er einen Holzlöffel im Knopfloch seines Anzuges trug. (118 f.)

Im Mai 1913 äußerte Sigmund Freud: Ich schreibe jetzt am Totem mit der Empfindung, dass es mein Größtes, Bestes, vielleicht mein letztes Gutes ist. (S.131) Im Oktober geht Freud mit seiner Familie in die Pilze…Freud trägt seine Knielederhosen, die grüne Joppe und den Hut mit dem Gamsbart, und dann geht die Suche los. Freud führt die Pilzsucher an – und immer ist er es, der mit Adlerblick die schönsten Pilze an den verstecktesten Stellen findet. Er läuft dann ein paar Schritte, nimmt seinen Hut, wirft ihn über den Pilz und pfeift dann schrill durch seine Silberpfeife, so dass alle Suchenden aus dem Unterholz heranstürmen. (S.241f.)

Im selben Monat produziert August Macke seine wichtigsten Werke. Auf dem Bild Sonniger Weg… glüht der Baumstamm so wie das Kleid der Frau, sie blickt hinein in das tiefe dunkle Blau des Wassers, man sieht den Himmel nicht vor lauter hellgrün gelb aufblitzendem Laub… Hier, am Thunersee, malt August Macke seine aktuellen Versionen des Paradieses. (S.258)

Ein besonderes Drama spielte sich um Georg Trakl ab. Wie in Trance irrt er durch die Welt, nur halb geboren sei er, gesteht er einem FreundDoch dann bekommt er im März 1913 Post aus Leipzig,…Man würde in der neuen Reihe Der jüngste Tag gerne einen Gedichtband von ihm drucken. Wird doch noch alles gut ? (S.84 f.)

Dieses Buch spiegelt auf leidenschaftliche Weise die blühende Kultur, den Aufbruch in die Moderne, aber auch die unruhige Welt des vorletzten Jahrhundertanfangs wider. Die Schrift könnte wie die Kalenderreihe Mit Goethe durch das Jahr benutzt werden. Hatte Goethe doch in Wilhelm Meisters Lehrjahren gesagt: Man sollte…alle Tage wenigstens ein gutes Gedicht lesen…Also lasst uns mit Nachzeichnungen, Anekdoten oder den lebendigen Originalzitaten aus 1913 beschäftigen, das brächte unseren Geist in Schwung. So wären wir Goethes Empfehlung gefolgt, Werte zu schätzen, auch wenn es in diesem Fall keine Gedichte sind.