Wilhelm II.
Autor*in: | John C. G. Röhl |
---|---|
Verlag: | C.H. Beck, München 2013, 144 Seiten |
Rezensent*in: | Klaus Hölzer |
Datum: | 11.09.2019 |
„Die Taten unserer tapferen Truppen sind herrlich, Gott gab ihnen den Erfolg. – Möge er ihnen weiterhin zu einem Frieden in Ehren zum Sieg über Juda und den Antichrist in britischem Gewand verhelfen.“ – schrieb Wilhelm II. am 4. Juni 1941 in einem Brief, 14 Tage vor seinem Tod im holländischen Exil. War er nur uneinsichtig, ein Leben lang Hass erfüllt, oder war er sogar geisteskrank, wie manche seiner Generäle vermuteten? Diese Fragen untersuchte der britische Historiker John Röhl, Professor für Neuere europäische Geschichte an der Universität Sussex, in seinem Hauptwerk, der dreibändigen Biographie Wilhelm II., die 2013 mit dem Einhard-Preis für herausragende Biographien ausgezeichnet wurde. Im selben Jahr erschien auch die hier zu besprechende Kurzfassung.
Der machthungrige und überall Anstoß erregende Herrscher wurde von den deutschen Fachhistorikern in der Weimarer Republik und in der Nazizeit mit Schweigen bedacht. Inzwischen wurde international aber ein umfassendes Quellenmaterial erarbeitet, auch von John Röhl selbst, das er auf der Grundlage moderner Forschungsergebnisse zusammenfasst. „Die Hervorkehrung seines Gottesgnadentums, sein aggressiv zur Schau getragenes Autokratentum, sein säbelrasselnder Militarismus, seine offenkundige Selbstverliebtheit und der byzantinische Servilismus, den diese Erwartungshaltung am Hof und selbst bei den obersten Staatsdienern erzeugte“, schreibt Röhl, „wirkten wie ein Rückfall ins 18. Jahrhundert und wurden als Affront gegen das eigene Volk empfunden“.
Immer wieder seine Verwandtschaft mit dem britischen Königshaus und der russischen Zarenfamilie betonend, versuchte er, seine hegemonialen Machtambitionen in Europa zu verschleiern. Wilhelm wurde 1859 in Berlin geboren. Seine Mutter, genannt Vicky, war das älteste Kind der Königin Victoria von England und er also der Enkel der ehrwürdigen Queen. Was bei seiner unglücklichen Geburt geschah und wie die Mutter und der Hof erzieherisch darauf einwirkten, beschreibt der Autor ausführlich als eine Mischung von ärztlichem Unwissen und tragischem, fehlgeleitetem Ehrgeiz der achtzehnjährigen Mutter. Sie ließ es zu, dass die Ärzte die schweren Geburtsverletzungen ihres Sohnes jahrelang mit rabiaten und äußerst schmerzhaften Maßnahmen zu korrigieren trachteten, allerdings ohne medizinischen Erfolg.
Die Folgen für das heranwachsende Kind waren verheerend, und nicht nur für das Kind. Um die Charakterentwicklung des unglücklichen Jungen zu verstehen, beschreibt Röhl die Persönlichkeit seiner Mutter, der es nicht gelang, den Jungen für sich zu gewinnen, und zu der Wilhelm zeitlebens eine gestörte oder besser eine tragische Beziehung unterhielt – tragisch für ihn, aber auch für Deutschland und Europa.
„Vicky, Tochter der Queen Victoria, intelligent, belesen, fortschrittlich-liberal, leidenschaftlich anglophil, machte aus ihrer vermeintlichen Überlegenheit am rückständigen, reaktionären Preußenhof kein Hehl und war dort entsprechend unbeliebt und isoliert. Trotzig rechnete sie mit der baldigen Thronbesteigung ihres heißgeliebten soldatischen Ehemanns Fritz und dann mit einer zeitgemäßen parlamentarischen Verfassung und einem Bündnis Preußens mit ihrem mächtigen Mutterland“.
Dass der kleine Prinz verkrüppelt war, empfand seine Mutter als eine kaum zu ertragende Schmach, die dem Sohn nicht verborgen blieb. Nachdem feststand, dass seine körperlichen Gebrechen nicht zu korrigieren waren, setzte die ehrgeizige Mutter auf Bildung. Wenn er schon kein stolzer Soldat werden konnte, sollte er wenigstens mit einer überragenden Bildung am Hof und im Staat glänzen. Aber auch dieses hohe pädagogische Ziel erreichte sie nur in eingeschränktem Maße. Ihre Absicht, den Sohn zu einem herausragenden liberalen Reformmonarchen heranzubilden, verfehlte sie vollkommen. Schon der 24jährige Wilhelm hatte sich zu einem hartgesottenen Junker und Reaktionär entwickelt.
Röhl: „Mit der Gesetzmäßigkeit einer griechischen Tragödie entwickelte sich aus diesen unerfüllbaren Erwartungen ein Teufelskreis wechselseitiger Enttäuschungen, die bei Wilhelm schon nach wenigen Jahren in Hass und Ablehnung der freiheitlichen Ideale der Mutter ausarten sollten“.
Ebenso empörte sich der Vater Friedrich Wilhelm über seinen Sohn und dessen Egoismus. Sein unberechenbarer Mangel an Takt sei ganz entsetzlich, er habe absolut kein fürstliches savoir faire. Sogar in der Öffentlichkeit beschimpfte er den Sohn als unreifen und urteilslosen Menschen, was Röhl als Angst des Vaters vor dem Sohn vermutet. Tatsächlich hatte der junge Prinz sich in den Kopf gesetzt, die Eltern in der Thronfolge zu überspringen, was ihm durch glückliche Umstände und die Unterstützung von Vasallen auch gelang. Bei diesem Vorhaben unterstützte ihn Graf Alfred von Waldersee, ein erzkonservativer, reaktionärer, kriegsbesessener und antisemitischer General, der offensichtlich mehr Einfluss auf die Weltanschauung des zukünftigen Herrschers gewinnen konnte als die Eltern. Seine Mutter, so Wilhelm, sei keine preußische Prinzessin geworden, sondern sei nach Lebensweise und Lebensanschauung innerlich und politisch Engländerin geblieben. Er wisse, „dass seine Mutter mit Bewusstsein für englische Interessen gegen preußische und deutsche arbeite.“
Zur Weltanschauung Wilhelms schreibt Röhl: Die Gedankenwelt des Prinzen Wilhelm an der Schwelle zur Thronbesteigung war von Kriegslust und Verachtung für Parlament und politische Parteien – ja der Zivilisten überhaupt – gekennzeichnet. „Britannien muss zerstört werden“, lautete sein Credo; er entwickelte jetzt schon eine Passion für eine starke deutsche Kriegsflotte. Aber auch Paris müsse „zerstört werden“ erklärte er. Waldersee notierte 1887, der Preußenprinz sei sehr kriegslüstern: „Der junge Herr will den Krieg mit Russland, will womöglich gleich das Schwert ziehen“, hielt Reichskanzler Bismarck entsetzt fest. Doch das waren der Feinde noch nicht genug. Maßlos schimpfte Wilhelm auf die Juden, das katholische Zentrum, die westeuropäischen Freisinnigen und die Sozialdemokraten im Reichstag und schrieb: „Möge der Tag bald kommen, wo die Grenadiere der Garde das Lokal mit Bajonett und Tambour säubern werden!“
Nach dem Krebstod seines Vaters im Juni 1888 wurde Wilhelm II. Deutscher Kaiser, König von Preußen und Summus Episcopus der evangelischen Kirche (bischöfliche Kirchenhoheit des Landesherrn) und obendrein nach Röhl „Oberster Kriegsherr der mächtigsten Armee der Welt.“ Als oberster Kirchenherr sollen nun seine religiösen Überzeugungen und das von ihm praktizierte Gottesgnadentum zur Sprache kommen. Röhl schreibt, seiner geradezu schwindelerregenden Vorstellung von seiner Rolle als Kaiser und König zufolge war er der Mittler zwischen Gott und seinem Volke. Er empfange von Gott seine Weisungen und sei in seiner Gottesgebundenheit verpflichtet, die göttlichen Ratschlüsse gegen jedwede Kritik auszuführen. Allen Ernstes behauptete er, gekrönte Häupter wie er hätten die angeborene Gabe des Hellsehens, die allen normal sterblichen Staatsmännern abginge. Ein Monarch, der sich von der Verfassung oder vom Parlament einschränken ließe, verdiene nur Verachtung. „Ich bin gewohnt, dass mir gehorcht wird“, verkündete er 1890, kurz vor der Entlassung Bismarck. Es gab kaum ein Gebiet, auf dem sich Wilhelm II. nicht berufen fühlte, besserwisserisch einzugreifen. Zu einem Zeitpunkt, zu dem Nietzsche und Ibsen den Tod Gottes verkündet hatten, schreckte die Öffentlichkeit – und nicht nur in Deutschland – angesichts solch anachronistischer Herrschaftsallüren auf.
Als Summus Episcopus von Preußen fühlte er sich berufen, den bescheidenen Schinkel-Dom (1747-1894) abreißen zu lassen und an seiner Stelle einen neuen Dom zu errichten, der hinter den großen Kirchen der Welt nicht zurückstehen sollte. An dieser Stelle muss auch der Antisemitismus Wilhelms II. erwähnt werden, der sich besonders ausgeprägt im niederländischen Exil zeigte, wo er – vor einer Verurteilung als Kriegsverbrecher fliehend – im November 1918 vom niederländischen Königshaus aufgenommen worden war. Die Novemberrevolution von 1918 sei ein „Verrat des von dem Judengesindel getäuschten belogenen Deutschen Volkes gegen Herrscherhaus und Heer!“ gewesen. Als Walter Rathenau im Mai 1921 zum Minister ernannt wurde, fühlte sich Wilhelm in seiner fixen Idee bestätigt: Dahinter stecke eine Weltverschwörung der Juden, Freimaurer und Katholiken gegen die protestantische deutsche Monarchie. Röhl fasst zusammen:
Die manichäische Einteilung der Welt in Gut und Böse, Gott und Satan, Christus und Antichrist, Protestantismus und Katholizismus, Monarchie und Demokratie, die seinem Denken im Exil zugrunde lag, fand nicht zuletzt Ausdruck auch in einem grauenerregendem Antisemitismus. 1927 soll er einem Freund erklärt haben: Die hebräische Rasse ist mein Erzfeind im Inland wie im Ausland; sie sind, was sie sind und immer waren: Lügenschmiede und Drahtzieher von Unruhen, Revolutionen und Umsturz, indem sie mit Hilfe ihres vergifteten, ätzenden, satirischen Geistes Niederträchtigkeit verbreiten. Wenn die Welt einmal erwacht, muss ihnen die verdiente Strafe zugemessen werden.
Im Dezember 1919 schrieb er einem seiner ehemaligen Generäle: Die tiefste und gemeinste Schande, die je ein Volk in der Geschichte fertiggebracht, die Deutschen haben sie verübt an sich selbst. Angehetzt und verführt durch den ihnen verhassten Stamm Juda, der Gastrecht bei ihnen genoss. Das war sein Dank! Kein Deutscher vergesse das je, und ruhe nicht bis diese Schmarotzer vom Deutschen Boden vertilgt und ausgerottet sind! Dieser Giftpilz am Deutschen Eichbaum! An einen anderen General schieb er ein Jahr später: „Die Welt würde nicht eher Ruhe haben und besonders Deutschland nicht, bis nicht alle Juden totgeschlagen oder wenigstens des Landes verwiesen wären.“
Einer Abendgesellschaft in Doorn erläuterte er im März 1921, wenn es in Deutschland zu besseren Zeiten käme, müssten die Juden die 80 Milliarden, die sie ins Ausland verschobenen hätten, zurückzahlen, darüber hinaus ihre Sammlungen, ihre Häuser und jedweden Besitz. Man müsste sie aus allen Beamtenstellungen vertreiben, ja sie müssten vollkommen zu Boden geworfen werden. Er forderte ein „internationales Allerweltsprogrom als „die beste Lösung“. Und im August 1927 schrieb er in einem Brief an Pouitney Bigelow (1855-1954), einen amerikanischen Autor und Journalisten: „Die Presse, Juden und Mücken sind eine Pest, von der sich die Menschheit so oder so befreien muss. I believe the best would be gas.” Man sieht, wie sich der Judenhass Martin Luthers über die Jahrhunderte hinweg ziemlich problemlos bis zum Kirchenführer Wilhelm II. und Adolf Hitler ausgebreitet hat.
Kein Wort des Bedauerns über den Tod von 9,7 Millionen Soldaten und 10 Millionen Zivilisten (Zahlen des Centre Robert Schuman), keine Einsicht in das über Europa ausgebreitete Elend. Das Weltbild des ehemaligen Kaisers unterscheidet sich kaum noch von dem des ihm folgenden Autokraten Hitler. Kein Wunder, dass er 1928 seine Hoffnungen auf den neuen Führer setzte. Die Wahlerfolge der NSDAP beflügelten seine Hoffnungen auf die Wiedereinführung der Monarchie, woraus bekanntlich nichts wurde. Hitlers erste Kriegserfolge ließen Wilhelm in Begeisterung ausbrechen. Mehr noch, in Briefen kurz vor seinem Tod 1941, wünschte er, wie anfangs schon erwähnt, den deutschen Truppen den Sieg über „Juda und den Antichrist im britischen Gewand“.
Da ist er wieder: der Hass auf England, der ihm, wie man vermuten darf, als eine Folge seiner Mutterbeziehung geblieben ist. Inwieweit das zutrifft, sollte man unter Zuhilfenahme der Tiefenpsychologie studieren. Alfred Adler hatte bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts über Organminderwertigkeit und Kompensation sowie zur Entwicklung des Aggressionstriebes Pionierarbeit geleistet. Es würde den Historikern nicht schaden, auch diese Quellen für das Verständnis der tragischen Entwicklungen im 20. Jahrhundert zu Rate zu ziehen.
Neben der Charakteranalyse des Preußenprinzen und seiner Mutter Vicky schildert John Röhl die wichtigsten Etappen im politischen Leben Wilhelm II. Dazu zählt u.a. seine Thronbesteigung im Dreikaiserjahr 1888, Bismarcks Sturz (1889-1890) und die europäischen Verwicklungen, die 1914 zum Ersten Weltkrieg führten. Mit seinem historischen Rückblick auf den Anfang des 20. Jahrhunderts scheint sich John Röhl an die Europäer des 21. Jahrhunderts zu wenden. Was der aufmerksame Leser dieser Kurzbiographie entnehmen kann, ist die Notwendigkeit, für alle Zukunft keinen Regierenden mehr mit alleiniger Macht auszustatten. Das System der ausbalancierten Machtverhältnisse, das wir Demokratie nennen, mag Fehler enthalten, scheint aber Schutz zu bieten gegen die menschenverachtende Willkür eines Alleinherrschers.