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Biographien

Von der Seele träumen dürfen – Nachträge zur Biographie und zum Werk Robert Musils

Autor*in:Karl Corino
Verlag:Königshausen & Neumann, Würzburg 2022, 794 Seiten
Rezensent*in:Ulrich Kümmel
Datum:10.12.2022

Karl Corino (geboren 1942) gilt als der weltweit bekannteste und angesehenste Musil-Forscher. Seine sorgfältige Beschäftigung mit Robert Musil begann etwa 1966/67, als er mit seiner Frau den Nachlass Musils in Rom ordnete und katalogisierte. Seitdem hat Corino ein halbes Dutzend Bücher und mehr als 70 Aufsätze über Musil publiziert; besonders bekannt geworden ist Corino mit seinem Robert Musil – Eine Biographie (Reinbek bei Hamburg 2003), eine fulminante Darstellung des österreichischen Dichters und seines Werks auf über 2000 Seiten. Mit der nur 800 Seiten umfassenden Herausgabe des jetzigen Buches Von der Seele träumen dürfen veröffentlicht Corino, wie er selbst sagt, seinen letzten großen Wurf. Das Buch umfasst neben einer Vorbemerkung und der Laudatio zur Verleihung des Ehrendoktorats an der Universität Klagenfurt 40 Kapitel. Hierbei handelt es sich teils um ausgewählte, bereits in Zeitschriften veröffentlichte Texte, teils um bisher nicht publizierte Forschungsarbeiten. Auch jene Leser, die bisher wenig aus Musils Werk kennen, werden aus der Lektüre dieses umfangreichen Werks großen Gewinn ziehen können; vor allem diejenigen, die planen, selber eine Biographie über einen Wissenschaftler, Literaten oder Künstler zu verfassen, werden viele Anregungen finden, wie sie vorgehen könnten oder sollten.

Der Laudator, Klaus Ammann, Literaturwissenschaftler und ehemaliger Leiter des Robert-Musil-Instituts in Klagenfurt, stellte anläßlich der Ehrenpromotion 2014 für Corino im Hinblick auf dessen damals bereits publizierte Schriften über Musil fest: CIch vermöchte kein vergleichbares Werk zu nennen, das es in Materialreichtum, Breite und Differenziertheit der Perspektiven, Vielfalt der methodischen Zugänge und Eleganz der Darstellung mit Corinos Biographie aufnehmen könnte.“ Diese Einschätzung trifft meines Erachtens auch auf den vorliegenden Band zu. Corino hat, wie es bei Ammann weiter heißt, „den Ehrgeiz, die Personen, die in Musils Leben eine Rolle spielten, möglichst vollzählig und in ihrer jeweiligen Bedeutung für ihn und sein Werk vorzustellen – das heißt in ihren familiären, sozialen, beruflichen, ökonomischen, geistigen oder erotischen Wechselbeziehungen mit den verschiedenen rollenspezifisch ausdifferenzierten Charakteren Musils.“ Corino versucht, diese Aspekte mit größter Sorgfalt zu erforschen, und nutzt dabei die unterschiedlichsten Quellen. So wurde es für ihn (und uns) im Laufe der Zeit möglich, der Wirklichkeit des Autors und seiner Figuren und deren Handlungsabläufen immer näher zu kommen. Corino weist aber auch darauf hin, dass diese Arbeit wohl nie ganz vollendet sein kann.

In Musils Großwerk Der Mann ohne Eigenschaften, geschrieben um 1930, entwickelt die Hauptfigur Ulrich eine utopische Idee: die Bildung eines Erdensekretariats für „Genauigkeit und Seele“. Es ging Musil darum, bei der Beschäftigung mit wichtigen Projekten streng wissenschaftlich vorzugehen, aber dabei nicht das Emotionale, die künstlerische Intuition, Phantasie und literarische Kunst zu vernachlässigen. Die Verbindung von Wissenschaft und Kunst hat Musil ein Leben lang begleitet. Diese Mischung aus strenger Wissenschaft und dichterischem Gestalten finden wir auch in Corinos Lebenswerk.

Das erste Kapitel seines Buches lautet: „Irrtümer als Stationen der Wahrheit. Die Recherchen zur Biographie Robert Musils.“ Corino schildert darin, wie anfängliche Zielvorstellungen und vorläufige Ergebnisse im Laufe langjähriger Ermittlungen verworfen, ergänzt und neu gestaltet wurden. Dabei geht es ihm auch darum, Hinweise unterschiedlichster Quellen, wenn nötig, zu einem neuen, wirklichkeitsnahen Bild zusammenzufügen. Corino sieht die jeweils erreichten Forschungsergebnisse als Stufen auf dem Weg zu einer möglichst wirklichkeitsgetreuen Darstellung des Lebens und Wirkens des Dichters und seiner Figuren. In der jahrzehntelangen Beschäftigung mit seinem Lebensthema fand Corino heraus, dass viele in Musils Werken dargestellten Ereignisse und Personen aus der Lebenswirklichkeit des Dichters stammten und oft überaus realistisch von ihm beschrieben wurden.

Welchen Aufwand Corino hinsichtlich des Auffindens von Ereignissen, die in Der Mann ohne Eigenschaften dargestellt werden, betrieben hat, wird deutlich an der Person des Sexualmörders Moosbrugger. Germanisten gingen oft davon aus, dass diese Figur, die in Musils Roman eine überraschend zentrale Rolle spielt, der Phantasie des Dichters entsprungen sein müsse. Corino war und ist anderer Auffassung. Seine Hypothese war: Für diesen faszinierenden Straftäter müssten in Wiener Zeitungen im entsprechenden Zeitfenster Hinweise zu finden sein. Daher versuchte er herauszufinden, um welche Person es sich handelte, wie sie im bürgerlichen Leben hieß, und wie sich die Tötung jener Gelegenheitsprostituierten zugetragen hatte, die im Mann ohne Eigenschaftenbeschrieben wird.

Corino schreibt, dass diese Recherche einer Suche nach der Nadel im Heuhaufen glich. Offenkundig schien für ihn, dass der Mord etwa zwei bis drei Jahrzehnte vor der Veröffentlichung des Romans geschehen sein musste. Schon in Musils Frühwerk fand Corino einen Hinweis über die Verhaftung eines gesuchten Mörders. Die Suche in den Archiven nach einem so spektakulären Verbrechen führte aber vorerst zu keinem Ergebnis. Nach langen ergebnislosen Nachforschungen schien endlich die Lösung des Rätsels gefunden. In den Memoiren eines Scharfrichters fand Corino den Hinweis auf die Hinrichtung eines Sexualmörders, der in vielem der Person des Moosbrugger im Musilschen Text entsprach. Corino veröffentlichte daraufhin einen Aufsatz mit dem Titel Ein Mörder macht Literaturgeschichte. Den Gerichtsakten zufolge gab es allerdings in der Persönlichkeits-Charakterologie dieses Mörders kaum Übereinstimmungen mit der Beschreibung des Verhaltens von Musils Figur des Moosbrugger.

Schließlich stieß Corino dann doch in der Wiener Kronenzeitung von 1912 (vergleichbar der heutigen Bild-Zeitung) auf die Lösung. Am 23. Februar hatte Kaiser Franz Josef einen zum Tode verurteilten Christian Voigt zu lebenslangem schwerem und verschärftem Kerker begnadigt. Und nun zeigte sich, dass es sich hier tatsächlich um den besagten Musilschen Moosbrugger gehandelt haben muss. Musil hat die damaligen Presseberichte teilweise wörtlich in sein Buch übernommen. Die Suche Corinos, und das spricht für seine Art zu arbeiten, war damit aber noch nicht zu Ende, denn er forschte zusätzlich danach, wie das weitere Leben dieses Sexualmörders verlief. Christian Voigt wurde nach vielen Jahren wegen guter Führung entlassen und soll danach ein erstaunlich ruhiges bürgerliches Leben geführt haben.

Corino, Musils akribischer Biograph, fasst das Oeuvre und die Persönlichkeit Musils in seinem Buch folgendermaßen zusammen: „Die zentrale Idee seines Werks, nämlich die von Genauigkeit und Seele, hat in unserer Zeit, da luftiges Fabulieren und die Logik der Forschung einander immer fremder gegenüberstehen, an Gültigkeit nichts verloren.“ Corinos Buch Von der Seele träumen dürfen – Nachforschungen zur Biographie und zum Werk Robert Musils verfügt, wie bereits erwähnt, über 40 Kapitel, in denen wir nachlesen können, dass sich auch Corino mit seiner präzisen Forschungstätigkeit an das Motto Musils von der Genauigkeit und der Seele gehalten hat. Corino schreibt in einer verständlichen Sprache, die Artikel sind jeder für sich auf ihre Art besonders, unterhaltsam, spannend und bereichernd und jedem zu empfehlen, der sich näher mit Musil beschäftigen möchte.

PS: Vom Rezensenten Ulrich Kümmel erschien im VTA-Verlag Berlin 2021 das Buch Robert Musil verstehen – Versuch eines Dilettanten (132 S., 18,00 €).