Von den Juden und ihren Lügen
Autor*in: | Martin Luther |
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Verlag: | Alibri-Verlag, Aschaffenburg 2016, 347 Seiten |
Rezensent*in: | Klaus Hölzer |
Datum: | 18.01.2017 |
Dieses Buch, knapp 500 Jahre alt (es wurde 1543 publiziert), ist den meisten Deutschen kaum bekannt. Sein Autor, Martin Luther, zählt in einem Ranking des ZDF, wo er den zweiten Platz einnimmt, zu den größten Deutschen. Der geringe Bekanntheitsgrad der Schrift ist nicht verwunderlich, wo doch hohe Repräsentanten von Staat und Kirche dieses Werk nur zögerlich kommentieren und angesichts des von Deutschen an Juden begangenen Unrechts zu notwendigen Korrekturen des Lutherbildes in der Öffentlichkeit kaum bereit sind.
In einem Gespräch mit dem evangelischen Pressedienst, abgedruckt im Sonntagsblatt vom 23.10.2016, wurde Bundespräsident Joachim Gauck gefragt, ob Martin Luther heute noch Vorbild sei. Kann der Reformator trotz antisemitischer Äußerungen dennoch als Vorbild gelten? Antwort Gaucks: „Ich denke schon, dass er Vorbild sein kann. Auch wenn uns antijüdische oder gar antisemitische Haltungen bestürzen und wir sie strikt ablehnen…“ Sein Urteil abschwächend spricht er davon, Luthers „Grobianismus“ sei ein Zug der Zeit gewesen und könne in der Literatur und den Predigten jener Zeit vielfach gefunden werden. Nach einer knappen Aufforderung an die evangelische Kirche, die Augen nicht vor den Fehlern und Verstrickungen der Reformatoren zu verschließen – eine weitere Relativierung (eigentlich zielte der Frager auf die Ungeheuerlichkeiten des Reformators Luther!) –, sind die folgenden sieben Seiten des Interviews weitgehend mit der „welthistorischen Leistung“ Luthers gefüllt.
Deutlicher positioniert sich Margot Käßmann, ehemalige Landesbischöfin in Hannover und ehemalige Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche Deutschlands. In einem Artikel, erschienen am 27.04. 2016 in der FAZ, geht sie zunächst die dunkle Seite der Reformation zögerlich an. Doch dann findet sie klare Worte: „Schon der Titel Von den Juden und ihren Lügen verrät, dass es sich um eine Schmähschrift handelt. Luther schlägt darin der Obrigkeit vor, dass sie jüdische Synagogen und Schulen mit Feuer anstecken, ihre Häuser zerbrechen und die Juden wie die Zigeuner in einen Stall tun soll.“ Anders als Gauck meint sie, der Zeitgeist könne nicht als Rechtfertigung für diese unfassbaren Äußerungen dienen. Trotz dieser entschiedenen Verurteilung des lutherischen Antijudaismus und Antisemitismus nahm Käßmann die Ernennung zur Botschafterin für das Reformationsjubiläum 2017 an.
Dieses Jonglieren führender Köpfe des Protestantismus zwischen gebremster Lutherkritik und lautstarker Lutherverehrung hat dazu geführt, dass von Luthers verbrecherischen Drohungen gegen die Juden in der Bevölkerung so gut wie nichts angekommen ist. Stattdessen haben sie bestehende Vorurteile zementiert. Heute würden solche Äußerungen wegen Volksverhetzung und Anstiftung zum Mord angeklagt.
Doch es gibt einen weiteren und gewichtigen Grund für die Unkenntnis des Luther-Textes Von den Juden und ihren Lügen innerhalb der Bevölkerung: Bisher stand die Gesamtschrift dem geneigten Leser in einer gut lesbaren und verständlichen Form nicht zur Verfügung. Dafür gesorgt zu haben, ist das Verdienst der vier Herausgeber. Sie haben erstmals diese Schrift in der zweiten erweiterten Auflage von 1543, von Hans Lufft in zeitgenössischer Schwabacher Fraktur gedruckt, ins heutige Deutsch und in eine gut lesbare Schrift übertragen, versehen mit Begriffserläuterungen. Auf der linken Seite steht der Originaltext, auf der rechten die Übersetzung in die aktuelle neuhochdeutsche Sprache. Der Leser kann selbst entscheiden, ob die Übersetzung gelungen ist. Original und Übersetzung kommen jeweils auf 152 Seiten, insgesamt ist das Buch 347 Seiten stark. Darin sind 20 Seiten Begriffserläuterungen enthalten. Zu Beginn des Luther-Jubel-Jahres 2017, vom Staat mit Millionenbeträgen gefördert, kommt dieses Buch, das zu einer Revision des Luther-Bildes einlädt, gerade recht.
Auffällig ist, dass es kein Inhaltsverzeichnis gibt und keine Gliederung des Textes durch Zwischenüberschriften. Immerhin beginnen manche Abschnitte im Original mit einem Großbuchstaben, der einen neuen Gedanken ankündigt. Für den heutigen Leser, von dem theologische Kenntnisse kaum zu erwarten sind, wäre eine knappe Zusammenfassung des Inhalts hilfreich gewesen.
Ohne Anspruch auf Vollkommenheit versucht der Rezensent, den Inhalt dieser 152-seitigen Lutherschrift in knapper Form darzustellen. Leutselig beginnt der Autor damit, er wolle nichts mehr über oder gegen die Juden schreiben. Es sei das Beste, nicht mit den Juden herumzustreiten. Aber diese Selbstbegrenzung hält nicht lange vor und wandelt sich bald in eine handfeste Streit-und Hetzschrift. Was Luther am meisten reizt und wogegen er polemisiert, sind die Ideen, auf die die Juden nach seiner Meinung besonders stolz sind: Die Abstammung von Abraham; der Bund der Beschneidung, den Gott mit ihnen geschlossen hat; das ihnen von Gott gegebene Gesetz; das Land Kanaan, das Abraham und seinen Nachkommen versprochen worden sei (das gelobte Land).
Des Weiteren empört ihn, dass nach jüdischer Auffassung der Messias immer noch nicht gekommen sei, die Juden also Jesus als Messias nicht anerkennen. In einem langen Abschnitt argumentiert Luther, dass der Messias in der Gestalt Jesu doch erschienen sei. So ziemlich am Ende der Schrift wird Luther konkret: „Was wollen wir Christen nun anfangen mit diesem verworfenen und verdammten Volk der Juden?“…“Ich will meinen wohlgemeinten Rat geben.“ (S. 247). Und dann folgt auf etwa 30 Seiten das, was sich nach Ansicht der Herausgeber wie eine Vorbereitung zum Holocaust liest: Verbrennung ihrer Synagogen (S. 247); Zerstörung ihrer Häuser und Zwangsunterbringung wie Zigeuner (S. 249); Wegnahme ihrer religiösen Bücher (S. 249); Lehrverbot für Rabbiner bei Androhung der Todesstrafe (S. 249); Aufhebung der Wegefreiheit (S. 251); Zwangsenteignung (S. 251); Zwangsarbeit (S. 255).
Kommentar des Philosophen Karl Jaspers dazu: „Was Hitler getan, hat Luther geraten, mit Ausnahme der direkten Tötung durch Gaskammern.“ Der Kirchenhistoriker Thomas Kaufmann kommt in seiner Untersuchung mit dem Titel Luthers Judenschriften (2011/2013) zu dem Ergebnis, die Gefahr einer Wiederbelebung des lutherischen Antisemitismus sei immer gegeben. Und ganz anders als Bundespräsident Joachim Gauck meint er, in seiner ganzen Gebrochenheit und Zeitgebundenheit stelle Luther keine Leitfigur dar, an der man sich heute noch orientieren könne. Wenn dem so ist, warum haben dann Kirchen und Staat eine 10-jährige Gedenkveranstaltung (2008-2017) ins Leben gerufen?
Mit dieser Publikation haben die Herausgeber eine wichtige Vorarbeit geleistet, damit eines Tages zum Nutzen der Allgemeinheit, nicht unbedingt der Theologen, ein realistisches Lutherbild erstellt werden und dem tiefsitzenden Antisemitismus in Deutschland und damit auch der Fremdenfeindlichkeit in diesem Land entgegengewirkt werden kann. Auch gegen die Türken hat der „zweitgrößte Deutsche“ gehetzt. Eine für die breite Öffentlichkeit geschriebene sachliche Darstellung der dunklen Seite Luthers ist ein Desiderat der Zukunft.