Sokrates
Autor*in: | Gottfried Martin |
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Verlag: | Ernst Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1967, 112 Seiten |
Rezensent*in: | Klaus Hölzer |
Datum: | 08.02.2012 |
Man sagte Sokrates nach, er wäre der wunderlichste oder unergründlichste aller Menschen gewesen und hätte alle in Verwirrung gestürzt. Er brachte seine Gesprächspartner mit seinen Fragen dahin, dass sie nicht mehr weiter wussten. Die Quellen, die über Sokrates berichten, sind Platon, Xenophon, Aristoteles und einige zeitgenössische Dichter. Vier platonische Dialoge schildern den Tod des Sokrates. Im Euthyphron wird gefragt, was Frömmigkeit ist. Die Apologie gibt seine Verteidigungsrede vor Gericht wieder. Im Kriton wird ihm die Flucht nahegelegt, die er ablehnt. Phaidon schildert den Todestag.
Platons Dialoge oder Gespräche lassen sich in drei Gruppen einteilen: die frühen, späten und mittleren Dialoge. Die frühen Dialoge heißen auch die sokratischen. Sie geben ein lebendiges Bild des sokratischen Gesprächs, besonders der Laches. Die mittleren Dialoge, wie Phaidon und Staat, kreisen um die Ideenlehre. In den späten geht es um den Sinn der Wissenschaft und der Ideenlehre. Xenophon nennt seine Erinnerungen an Sokrates Memorabilia. Der wichtigste Beitrag von Aristoteles zu Sokrates ist seine Geschichte der griechischen Philosophie im ersten Buch der Metaphysik, wo er die philosophische Bedeutung von Sokrates würdigt. Wichtig als Quelle ist auch der Dichter Aristophanes, in dessen Komödie Die Wolken Sokrates im Mittelpunkt steht. Die zahlreich erhaltenen Porträts des Sokrates spiegeln ein glaubhaftes Bild seiner äußeren Erscheinung.
Als Sohn eines Bildhauers und einer Hebamme wurde Sokrates 469 in Athen geboren. Ein kleines, von den Eltern geerbtes Vermögen wird er vermutlich in den Wirren des Peloponnesischen Krieges eingebüßt haben. Sein Beruf war wohl der eines Bildhauers. Mit seiner Frau Xanthippe hatte er drei Söhne. Entgegen der üblichen Meinung zeichneten Platon und Xenophon ein freundliches Bild der Ehe. In seinem Leben setzte Sokrates auf Einfachheit, Besonnenheit, Mäßigung und Tapferkeit, die er nicht nur im Krieg, sondern auch im politischen Leben Athens bewies. Niemals hat jemand den Sokrates betrunken gesehen. Xenophon berichtet, er habe äußerst sparsam gelebt und sich bei Einladungen immer vor Überfüllungen gehütet. Sokrates riet dazu, sich vor Genüssen zu hüten, die zum Essen ohne Hunger und zum Trinken ohne Durst reizten. Das würde Kopf und Seele ruinieren. Essen und Wohlleben waren in der Sprache der Athener dasselbe. Man esse, was weder die Seele noch den Leib beschwere und nicht schwer zu besorgen sei. Wer mäßig lebt, lebt wohl.
Delphi war das Nationalheiligtum der Griechen. Auch für Sokrates und Platon war der Orakelspruch aus Delphi die oberste und unbezweifelte Instanz in allen Fragen, auf die nur ein Orakel antworten kann. Delphi galt als Autorität in allen Religionsangelegenheiten. Über dem Eingang zum Heiligtum steht der Spruch: Erkenne Dich selbst, den Platon oft zitiert. Er spielt eine große Rolle in den frühen, auch sokratisch genannten Dialogen, die weitgehend eine Darstellung des Sokrates sind. Im Charmides, einer charakteristischen Darstellung sokratischer Gespräche, bezieht sich Sokrates besonders ausführlich auf das Erkenne dich selbst. Ein Mensch, der von sich selbst nichts weiß, kann nicht besonnen sein, oder anders ausgedrückt: Besonnenheit drückt sich im Sichselbsterkennen aus.
Es ist der Logos, der den Menschen im Grunde seines Wesens bestimmt. Dem Kriton gegenüber äußert Sokrates, dass er nur dem Satz gehorche, der sich bei der Untersuchung als der beste erweise. Sein Leben lang gehorchte er nur dem Logos, der sich ihm in einer Untersuchung als der beste erwies. Das Gute besteht nicht darin, was die Leute tun oder sagen, sondern es hat einen erkennbaren Sinn, den man erfassen muss und befolgen muss. Der Autor dieses Porträts, Gottfried Martin, betrachtet die Einsicht des Sokrates in die Kraft des Logos als eine der wichtigsten Einsichten in der Geschichte der Menschheit. Er hält es für wünschenswert, dass jedermann von sich sagen könnte, er wäre lebenslang dem Logos gefolgt, den er als den richtigen erkannt hätte.
In der Apologie setzte sich Sokrates mit den Dichtern auseinander. Er kritisierte an ihnen, dass sie nicht aus Weisheit dichteten, sondern dass eine Naturgabe und eine Begeisterung wie die Wahrsager und Orakelsänger sie dazu triebe. Der Dichter sei ein leichtes Wesen, geflügelt und heilig. Er könne erst dann dichten, wenn die Begeisterung ihn packe, er bewusstlos geworden sei und nicht mehr in der Vernunft wohne. Hier ist kaum zwischen Sokrates und Platon zu trennen; denn beide leben völlig in der griechischen Dichtung. Beide kennen die Texte ihrer Dichter auswendig und sind daher überaus mit ihnen vertraut.
Von Homer gibt es in den platonischen Dialogen über 100 Zitate aus der Ilias und der Odyssee, ein Großteil davon in den frühen Dialogen, die im wesentlichen als Darstellung des Sokrates gelten können. Homer nennt er den trefflichsten und göttlichsten der Dichter. Dagegen schreibt Martin die scharfen Angriffe auf die Dichter im allgemeinen und auf Homer im besonderen, die im Staatnachzulesen sind, dem älteren Platon zu. Der Staat dürfe von der Dichtkunst nur die Gesänge an die Götter und die Verehrung trefflicher Männer dulden. Nähme er aber die süßliche Muse mit ihren Gesängen und Versen auf, würden Lust und Unlust im Staat das Regiment führen statt des Gesetzes und der von der Allgemeinheit als das Beste geschätzten vernünftigen Gedanken.
Sokrates und Platon waren auch mit den Tragikern Aischylos, Sophokles und Euripides vollkommen vertraut und setzen diese Vertrautheit auch bei den Lesern der Werke voraus. Sokrates war der Meinung, ein und derselbe Dichter müsse sowohl Komödien als auch Tragödien dichten können. Im Jahr 423 schrieb Aristophanes eine bissige Satire auf Sokrates. Während der Vorstellung, bei der Sokrates nach einer alten Anekdote anwesend war, stand der Philosoph auf, damit alle Zuschauer zwischen der Komödienfigur und der Wirklichkeit vergleichen konnten. Wegen der Schärfe dieser Satire zweifelte man lange, ob das Bild des Aristophanes mit anderen Sokrates-Darstellungen übereinstimmen konnte. Neuere Untersuchungen lassen die Deutung des Aristophanes gelten; denn eine echte Satire trifft ihren Gegenstand in irgendeiner Weise.
Wie die beiden zueinanderstanden, ist schwer zu durchschauen. Aristophanes ist ein Teilnehmer des Gastmahls und hält die vierte Lobrede auf den Eros. Der Dichter scheint in freundschaftlichem Verhältnis zu Sokrates zu stehen. Aber die Apologie zeichnet ein anderes Bild. Hier beschuldigt der Philosoph den Dichter, er gehöre zu den Urhebern der gegen ihn verbreiteten Verleumdungen. Wie es zu so unterschiedlichen Versionen gekommen ist, bleibt im Dunkeln. Martin meint, wenn Platon die Gegensätze so betont, dürfte es tatsächlich so gewesen sein. In den Wolken lässt Aristophanes den Sokrates auf eine Frage nach Zeus antworten: Was meinst du mit Zeus? Was soll mir der Wahn! Es gibt keinen Zeus! Für seine These, Sokrates sei der Entdecker des Logischen und der Wissenschaft, beruft sich Martin auf Nietzsche, dem Sokrates als der Erste erschien, …
„der an der Hand jenes Instinktes der Wissenschaft nicht nur leben, sondern – was bei weitem mehr ist – auch sterben konnte; und deshalb ist das Bild des sterbenden Sokrates als des durch Wissen und Gründe der Todesfurcht enthobenen Menschen das Wappenschild, das über dem Eingangstor der Wissenschaft eines Jeden an deren Bestimmung erinnert, nämlich das Dasein als begreiflich und damit als gerechtfertigt erscheinen zu machen: wozu freilich, wenn die Gründe nicht reichen, schließlich auch der Mythus dienen muss, den ich sogar als notwendige Konsequenz, ja als Absicht der Wissenschaft soeben bezeichnete.“