Rudolf Steiner und die Anthroposophie
Autor*in: | Peter Selg |
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Verlag: | Schwabe, Basel 2025, 539 Seiten |
Rezensent*in: | Gerhard Danzer |
Datum: | 19.04.2025 |
Runde Jahres-, Geburts- und Todestage verleiten im Verlagswesen und Buchhandel in der Regel dazu, an die Betreffenden mit Werkausgaben, Tagungsbänden oder Biografien zu erinnern. Wenn in den Auslagen der Buchläden manche Namen gehäuft an prominenter Stelle auftauchen, dürfen wir uns also getrost fragen, den wievielten Ehrentag die entsprechenden Literaten Herr Meier oder Frau Müller gerade begehen.
Eben dieses Phänomen lässt sich derzeit im Hinblick auf Rudolf Steiner beobachten, der vor einhundert Jahren (1925) verstorben ist. Da Steiner schon zu Lebzeiten, aber auch bis zum heutigen Tag sehr unterschiedliche Reaktionen ausgelöst hat - von der begeisterten Identifikation mit ihm und seinen Ansichten bis hin zu entschiedener und entrüsteter Ablehnung von anthroposophischen Aktivitäten und Initiativen -, verwundert es nicht, dass die momentan zu registrierenden Neuerscheinungen zu Steiner und zur Anthroposophie ebenfalls von applaudierender Zustimmung bis zu kritisch-distanzierender Auseinandersetzung reichen.
Bei derart divergierenden Beurteilungen ist es sinnvoll, eine Publikation über Rudolf Steiner zu berücksichtigen, die sich hauptsächlich auf dessen Biografie und auf die von ihm selbst initiierten Kulturaktivitäten (z.B. in Medizin, Pharmazie, Architektur, Waldorf-Pädagogik, Landwirtschaft) konzentriert und sich dabei durch umfangreiches Faktenwissen und verständlichen Sprachduktus auszeichnet. Die seit Jahren geführten Debatten um die Wissenschaftlichkeit beispielsweise der anthroposophischen Medizin und um die Evidenz ihrer Wirknachweise werden im hier vorgestellten Buch allerdings kaum nachgezeichnet. Auch eine kritische Beurteilung der von Steiner wiederholt vorgenommenen Vermischung von Wissenschaft und Glauben inklusive seiner Neigung zu Okkultismus (Hellseherei; Geheimwissenschaft) kommt in der Darstellung zu kurz. Ausführlicher werden hingegen die Auseinandersetzungen um Steiners Positionen zum Judentum und zum Zionismus erläutert.
Der Autor Peter Selg, seines Zeichens Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -Psychotherapie, lehrt als Professor Anthropologie und Ethik an der Universität Witten sowie an der Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft in Alfter. Des Weiteren leitet er das Ita Wegmann Institut für anthroposophische Grundlagenforschung und ist Leitungs-Mitglied des Goetheanums in Dornach (Schweiz), das als Zentrum der Anthroposophischen Gesellschaft sowie als Sitz der Freien Hochschule für Geisteswissenschaften dient.
Als jahrzehntelang in der Anthroposophie Beheimateter verfügt Selg über umfangreiche Kenntnisse sowohl der Biografie und des Werks Rudolf Steiners als auch der Anthroposophie generell. In Hunderten von Publikationen und Vorträgen hat Selg in den letzten Jahrzehnten diese Kenntnisse unter Beweis gestellt, wobei ihm - zu Recht oder zu Unrecht sei hier nicht entschieden - aufgrund seiner großen Nähe und Identifikation mit der Person Rudolf Steiners und der Anthroposophie der Vorwurf, eine gewisse Neigung zur Hagiographie aufzuweisen, nicht erspart geblieben ist.
Die Lektüre des hier angezeigten Buches lohnt vor allem für jene Leser, die sich über das gesamtkunstwerkliche Schaffen Rudolf Steiners - von seinen architektonischen Vorstellungen bis hin zur anthroposophischen Geisteswissenschaft - informieren wollen, ohne dass dabei dessen weltanschauliche und esoterische Prämissen problematisiert werden. Ausgehend vom Studium dieses Buches darf man sich als Leser fragen, wie sich die erstaunlichen Wirkungen Rudolf Steiners und seiner Anthroposophie erklären, die bis auf den heutigen Tag in Kulturbereichen wie Medizin, Pharmazie, Pädagogik (Waldorf), Landwirtschaft und Architektur zu konstatieren sind und von Hunderten oder Tausenden Ärzten und Pädagogen und weiteren Berufsgruppen ermöglicht werden. Welche (religiösen / spirituellen) Hoffnungen und Sehnsüchte und wie viel soziokultureller Idealismus sind in alle diese Phänomene investiert, und wie viel individueller oder auch gesamtgesellschaftlicher Nutzen (Schaden) entsteht dennoch oder gerade auch deswegen aus alledem?