Hans Christian Andersen - Eine Biographie
Autor*in: | Jens Andersen |
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Verlag: | Insel Verlag, Frankfurt am Main 2005, 725 Seiten |
Rezensent*in: | Matthias Voigt |
Datum: | 10.03.2014 |
Jüngst bekam ich eine Biographie über Hans Christian Andersen geschenkt – ein schöner Leinenband von 725 Druckseiten. Ihr Autor, der dänische Journalist Jens Andersen, wurde hierfür mit dem Georg-Brandes-Preis geehrt. Brandes hatte Friedrich Nietzsche schon früh in Dänemark bekannt gemacht. Und so sah er auch als einer der ersten, dass man es bei dem umstrittenen Verfasser dieser ungewöhnlichen Geschichten wie das des Hässlichen jungen Entleins oder Des Kaisers neue Kleider mit einem großen Dichter zu tun hatte.
Diese beiden kleinen Märchen zeigen die Polaritäten, zwischen denen sich der Lebensweg des 1805 geborenen Hans Christian Andersen bewegte. Er war das Schwanen-Ei im Entennest. Was dem hässlichen Entlein im Märchen widerfährt, ist im Vergleich mit der realen Lebenssituation noch recht harmlos umschrieben. Denn Odense, Andersens Geburtsort auf der Halbinsel Fünen, war ein Ort Dänemarks, in dem die Mehrzahl der Kinder unehelich zur Welt kam. So auch Hans Christian. Als zu jener Zeit der Kapitalismus seinen Siegeszug vorbereitete, galt die Gelegenheitsprostitution als nächstliegender Lebensunterhalt für Mädchen, bloß um zu überleben. Hans Christians Mutter war es schließlich im 32. Lebensjahr gelungen, den um 10 Jahre jüngeren Hans Andersen zur Heirat zu bewegen. Der hätte seine Vaterpflichten am künftigen Dichter durch die einmalige Zahlung von 6 Gulden in die Stadtkasse abgelten können. Aber dieser Mann, ein schmächtiger Schuster von zarter Gesundheit und Anhänger der französischen Revolution, willigte in die Vaterrolle ein. Er wurde für seinen Sohn zur eigentlichen Mutter.
Hans Christian Andersen wuchs also in einer Welt der Verwahrlosung und des Kampfes ums Dasein auf. Vom Schicksal weder mit Schönheit noch mit Nahrungsgütern verwöhnt, entdeckte das hässliche Entlein – der Junge war hager und groß, von wenig anmutiger Gestalt –, dass dem Schicksal einer Existenz am Abgrund nur durch Streben nach Unabhängigkeit zu entkommen ist: Wo nichts zu holen war, musste man Geber werden, und man benötigte dazu Gaben, die nichts kosten durften. Eine schöne Stimme war ihm per Geburt gegeben, und Märchen lernte Hans Christian bei den Wäscherinnen am Fluss, zu denen die Mutter gehörte, oder in der Werkstatt des geliebten Vaters kennen. In diesen Geschichten hörte er von lauter Leuten seinesgleichen, die sich allesamt durch die Härten des Erdendaseins durchbeißen mussten, um am Ende in den Besitz eines eigenen Reiches zu gelangen. Solche Mythen gaben der Kinderseele Nahrung, die sich mit der Phantasie des empfindsamen Knaben beliebig vermehren ließ.
Hans Christian Andersen entdeckte bald, wie er mit seinem schönen Sopran auch die verhärtetste Seele erweichen konnte. Als virtuoser Fabulierer errang er die Aufmerksamkeit seiner Mitmenschen, verlockte sie in Welten, die das Leben in der wirklichen Welt erträglicher machte. Die Phantasie wurde zum Medium, mit dem schon der Knabe die eigene Hoffnung und auch die seiner Zuhörer auf ein menschenwürdigeres Dasein hin beflügeln half. Harmlos war dieses kindliche Spiel mit der Phantasie gewiss nicht. Denn dass der Kaiser ja gar nichts anhat, das hatte der wache Knabe von seinem Vater gelernt. Der ließ sich dann leider von seiner fragilen körperlichen Verfassung nicht abhalten, mit den Truppen Napoleons die überkommenen Herren Europas ihrer Ämter zu „entkleiden“. Der 14jährige Sohn folgte hierin dem Vater nicht. Er zog es vor, in der Welt der Imagination die herrschenden Verhältnisse zum Tanzen zu bringen.
Diese Lebensverhältnisse, die sozialen und geistigen Strömungen des frühen 19. Jahrhunderts, fügt der Biograph zum Lebensbild eines heranwachsenden Künstlers zusammen. Dabei entgeht er den Gefahren, die Persönlichkeit des Dichters auf irgendwelche Ursachen psychologisierend zurückzuführen, wozu Hans Christian Andersens Biographie einlädt. Dessen Memoiren, Märchen meines Lebens ohne Dichtung, bieten einen verharmlosenden Blick auf die eigene Werdensgeschichte: Hier soll das Märchenhafte seines Lebensweges ohne dessen hässliche Seiten auskommen. Doch auch diese geglättete Autobiographie – so sieht es Jens Andersen – zeugt nicht nur einseitig davon, dass sich der Dichter vom Schmutz seiner Herkunft verdrängend befreien wollte. Ebenso sehr sei sie der bewusste Versuch, dem Lesepublikum den Weg zu den eigentlichen Botschaften nicht unnötig zu erschweren.
Andersens „narzisstische“ Persönlichkeitszüge werden von seinem einfühlsamen Biographen also nicht auf ihre pathologischen Aspekte reduziert. Er versteht sie vielmehr als eine Selbstrettung des hässlichen Entleins. Dessen Überleben war derart bedroht, dass Rettung nur „überkompensatorisch“ denkbar war. Allein in der Identifizierung mit der überaus anspruchsvollen Rolle eines Verkünders nicht-entfremdeten Daseins erblickte Andersen einen lebenswerte Existenz. Zur Tat schritt der junge Poet, nachdem sein geliebter Vater aus der Armee ausgeschieden war und bald darauf starb. Der nun 14jährige Hans-Christian verließ seinen Heimatort Odense. In Kopenhagen, am dortigen königlichen Ballett, glaubte der hochaufgeschossene, ungelenk-schlacksige Knabe, könnte er die ihm verheißungsvolle Schwanenrolle auf direktem Wege einlösen.
Wie es ihm dann auf dem entmutigenden Wege bis zu ersten Erfolgen als Schriftsteller erging, erzählen viele seiner späteren Märchen durchaus realistisch. Möglichen Gönnern und Förderern, die er als seltsames Wunderkind immer wieder für sich einnahm, präsentierte er die rührseligere Version seiner Kindheitsbiographie. Sie kann im Märchen meines Lebens nachgelesen werden. Darin verlegt er die eigene Lumpenproletarierherkunft in weniger anrüchige, ländlich-unschuldige Regionen. Was Andersen zu sehen gelernt hatte, davon berichten insbesondere seine Märchen. Hierin präsentiert sich der alles beseelende Blick eines Kindes, in dessen Augen das Unscheinbare zu leuchten beginnt, und jeder anmaßende Schein im Gelächter – „er hat ja gar nichts an!“ – untergeht.
Jens Andersen stellt in seiner umfänglichen Monographie in immer neuen Bezügen dar, wie der Dichter die Idee einer kindlich reinen Existenz an der eigenen Person kultivierte. Als Romantiker versuchte er der Natur selbst ihre Geheimnisse abzulauschen. Trotzdem war er aufgeschlossen für die Fortschritte, die von Naturwissenschaft und Technik ausgingen. Der romantische Mythos, dass wir Menschen auf dem Wege eines natürlichen Empfindens, Fühlens und Denkens zu uns selbst finden würden, war bei Andersen nicht zur Ideologie entartet. Die vorliegende Biographie zeigt, woher H.C. Andersen diese geheimnisvolle Kraft bezog: aus einem schier unstillbaren Anerkennungsbedürfnis, aus riesigem Mut und noch größerem Fleiß. Zu solchen Höhen der Vergeistigung von Natur konnte sich bloß einer aufschwingen, der eine ziemlich umfängliche Auseinandersetzung mit Kunst, Philosophie und Wissenschaft seiner Zeit absolviert hatte. Die aber verbarg Andersen sorgfältig unter dem Gewande des Kind-gebliebenen-Erwachsenen.
Was bei oberflächlicher Betrachtung wie seine „glückliche Natur“ erscheint, war das labile Gleichgewicht, das in seelisch-geistiger Schwerarbeit erworben und erhalten werden musste. Wenn der Dichter so manche Seite der Natur scheute – Frauen und (Hetero-)Sexualität beispielsweise – dann, weil dies für ihn Gefahr für seine Unabhängigkeit bedeutete. Anders als die vielen Frauenverächter gab er ihrer Anziehung nach, wenn auch in der Distanz des faszinierten Beobachters. Was solch geistvoller Lebensmut vermag, zeigen seine „Eroberungszüge“ durch halb Europa, die denen Napoleons in vieler Hinsicht überlegen waren. Von solchen Unternehmungen ließ sich der „Angsthase“ Andersen auch durch allfällige Symptome nicht abhalten: Auf seinen monatelangen Reisen war er nie ohne Komplettausstattung eines Dandys unterwegs; unabdingbares Gepäckstück war daneben auch ein solides Kletterseil für den Fall des Hotelbrandes. Wenn er dann zum dritten Male am Morgen die gerade bestiegene Postkutsche seufzend wieder verlassen musste, vernahm sein Reisegefährte: „Es ist schon ein Schicksal, wenn man sogar im Enddarm zu viel Phantasie hat“.