Freud bei der Arbeit. Zur Entstehungsgeschichte der psychoanalytischen Theorie und Praxis mit einer Auswertung von Freuds Patientenkalender
Autor*in: | Ulrike May |
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Verlag: | Psychosozial-Verlag, Gießen 2015, 380 Seiten |
Rezensent*in: | Gerald Mackenthun |
Datum: | 03.03.2016 |
Sigmund Freud fasziniert anhaltend. Jedes Jahr erscheinen in Buchform neue Anläufe, den Begründer der Psychoanalyse und Großvater der Dynamischen Psychologie zu verstehen. So auch die Berliner Psychoanalytikerin Ulrike May, die acht Aufsätze aus den Jahren 1991 bis 2011 in einem Sammelband zusammenfasst. Darin geht um ein Nachvollziehen wichtiger Freud´scher Konzepte beispielweise zum Narzissmus, der Depressionstheorie, den psychosexuellen Phasen und dem Todestrieb. Die Autorin interessiert dabei nicht nur die Anfänge der jeweiligen Konzepte bei Freud selbst, sondern auch ihre Umwandlungen durch Freudschüler wie Isidor Sadger, Karl Abraham, August Stärcke und Ernest Jones. Bei Freuds Schriften handelt es sich nicht um abgeschlossene Theoriegebäude, sondern um das Produkt laufender und oftmals revidierter Überlegungen.
Die Besonderheit dieses Sammelbandes liegt jedoch auf einem anderen Feld, nämlich der Auswertung von Freuds Patientenkalender aus den Jahren 1910 bis 1920. Hier eröffnet sich dem Freud-Kenner noch einmal ein bis dato unbekannter Einblick in dessen Arbeitsalltag mit Patienten und „Lernkandidaten“. Die Existenz dieser drei Kalender im Londoner Freud-Museum war bislang nur wenigen Insidern bekannt und noch nie in einer Publikation erwähnt oder verwendet worden. In diese kleinen Hefte trug Freud Tag für Tag ein, welche Patienten er wann gesehen hatte. In den zehn Jahren sah Freud insgesamt 130 Patienten, für die er pro Sitzung einen Strich eintrug. Sein tägliches Pensum betrug in der Regel zehn Therapiestunden pro Tag, manchmal auch elf oder zwölf. Zu diesem an sich schon sehr hohen Arbeitspensum kamen bekanntlich noch seine enorme Korrespondenz und seine Buchproduktion hinzu.
May entschloss sich, keine neuen Namen von Patienten zu enthüllen, sondern nur schon bekannte Patienten und Analysekollegen auszuwerten. Auf diese Weise werden 36 Analysen näher besprochen, und zwar 17 „Analytiker“, die Mitglied einer psychoanalytischen Vereinigung waren und in der Regel auch an den berühmten Zusammentreffen jeweils Mittwochabend teilnahmen, sowie 19 Patienten. Die hohe tägliche Arbeitsleistung schien damals unter Ärzten üblich gewesen zu sein. Bekannte Analytiker wie Ernest Jones und Karl Abraham berichten ebenfalls von zehn Patienten täglich. Mit Beginn des Ersten Weltkriegs brach die Zahl der Analysanden bei Freud auf nur noch zwei bis fünf pro Tag ein. Mehr als zwei Jahre blieb die Praxis auf diesem niedrigen Niveau. Ab Januar 1918 füllte sie sich wieder auf neun bis zehn Stunden täglich. In der Hochzeit kam Freud auf bis zu 66 Behandlungsstunden pro Woche und 250 Stunden pro Monat.
Zu den „Lernkandidaten“ gehörten so bekannte Analytiker wie René Spitz, Sándor Ferenczi, Helene Deutsch und Anton von Freund. Die Dauer ihrer Analysen schwankt stark zwischen zwölf und 256 Stunden, teilweise in Tranchen verteilt auf mehrere Jahre. Freud sah diese Analytiker in der Regel sechs mal pro Woche, manchmal aber auch zweimal täglich, also zwölfmal pro Woche. Keine dieser Lehranalysen dauerte länger als elf Monate, und zwar einschließlich Freuds Sommerferien. Die Sechsstundennorm war an die damalige Arbeitswelt angepasst, als noch die Sechstagewoche üblich war. Zugleich könnte sie der hohen Vitalität Freuds entsprochen haben (S. 295).
Entgegen der Abstinenzregel, die sich später in Analytikerkreisen durchsetzte, verhielt sich Freud selbst im engeren Sinne nicht abstinent und war für seine Lernanalytiker als Privatperson gut erkennbar. Er war mit vielen Analysanden schon vor der Behandlung bekannt und befreundet. Bisweilen kannte er die Ehepartner und engsten Freunde seiner Schützlinge und nahm sie ebenfalls in Behandlung. Mit nicht wenigen unterhielt er während der Lerntherapie eine freundschaftliche Beziehung. Er verbrachte seine Ferien teilweise in deren Häusern, und manche besuchten ihn in seinem Urlaub. Dann erhielten sie auch einige Stunden.
Die Lehr- und Lernanalysen waren damals noch nicht Standard. Um als Analytiker Stunden bei Freud zu bekommen, war das Engagement für die Psychoanalyse entscheidend. Diese Lernanalysen waren zeitlich begrenzte Veranstaltungen im Sinne eines Anschubs oder einer Anregung (S. 300). Die Patientenanalysen hingegen dienten tatsächlich der Behandlung psychischer Störungen. Der berühmteste unter den 19 Patienten, die Ulrike May auswählte, dürfte Sergej Pankejeff sein, der „Wolfsmann“. Der damals 23 Jahre alte und wohlhabende Student erhielt ungefähr 1165 Stunden bei Freud in den Jahren 1910 bis 1914 und noch einmal 1919 bis 1920. Den Rekord der vermutlich längsten Analyse bei Freud dürfte aber Victor von Dirsztay mit 1489 Stunden halten. Der expressionistische Schriftsteller empfand das Leben als äußerste Qual und beging mit seiner Exfrau 1935 Doppelselbstmord.
Auch bei den Patienten schwankte die Gesamtstundenzahl sehr stark zwischen 41 und den genannten 1489 Therapiestunden. Vorwiegend kamen die Patienten einmal täglich, also sechs Stunden die Woche, manchmal steigerte sich die Frequenz auch auf neun oder zwölf Stunden. Wie meistens, wenn ihm ein Patient oder eine Patientin von einem Kollegen geschickt worden war, hielt Freud den Überweisenden über die Analyse auf dem Laufenden (S. 309). Freud empfand das offensichtlich nicht als Indiskretion. Er notierte in seinen Patientenkalendern keine Diagnosen, aber aus den jeweils kurzen biographischen Angaben, die Ulrike May zu den Patienten macht, gehen sie teilweise hervor. So finden wir Zwangsneurosen, Zwangshandlungen, Drogenabhängigkeit, Narzissmus, schwere Depressionen, Verfolgungswahn und Eifersuchtswahn.
Die Erfolge der Redekur waren durchwachsen; mehrere Patienten suchten nach der Behandlung durch Freud noch weitere Analytiker auf. Trotz der in Einzelfällen sehr hohen Stundenzahl waren die meisten der von May erwähnten Patienten nicht länger als zwei Jahre bei Freud und verbrachten im Schnitt 350 Stunden bei ihm. Bei zwei Patienten kann man sogar von einer Kurzzeittherapie von 40 Stunden Dauer sprechen. Keinem der Patienten gab Freud Stunden im Urlaub. Die Frequenz wurde in manchen Fällen während der Behandlung mehrmals verändert (S. 340). May betont, dass keine dieser Merkmale auf die Art und Weise zutrifft, wie heute Analytiker ihre Praxis führen. Die Frequenz ist wesentlich geringer und vermutlich auch konstanter. „Wir können uns also, das ist mein Fazit, nicht auf Freud berufen, wenn wir, wie es heute der Fall ist, die vierstündige Analyse zur Norm erheben“ (S. 340).
May vermutet, dass Freud auch deswegen so viel arbeitete, um viel Material für seine unzähligen Hypothesen zu gewinnen. Er arbeitete anders, als Analytiker heute noch glauben. Es waren die Therapeuten in Freuds Nachfolge, die aus seinen Empfehlungen und Erfahrungen Gebote und Verbote machten. So entstand jenes strenge Regelwerk, gegen das sich in den letzten Jahrzehnten immer wieder Widerstand regte. Im Unterschied zu der heute üblichen Technik verhielt sich Freud in den Analysen undogmatisch und liberal. Andererseits sollte man, so May, aus den Freud´schen Notizbüchern keine Richtlinien für heute ableiten. Sie geben die Realität einer Praxis wieder, die heute so nicht mehr zu realisieren ist.