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Biographien

Dissidentisches Denken. Reisen zu den Zeugen eines Zeitalters

Autor*in:Marko Martin
Verlag:Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2019, 540 Seiten
Rezensent*in:Matthias Voigt
Datum:13.07.2022

Marko Martin, Autor eines umfangreichen Berichtes über Begegnungen mit bekannten und unbekannteren „Abweichlern“ vom Marxistischen Glauben, kannte ich bisher nur über wenige Beiträge im Feuilleton der Welt. Wikipedia wusste, dass er im Frühjahr 1989 seine Volljährigkeit genutzt hatte, um unmittelbar vor dem DDR-Zusammenbruch noch in den Westen „auszureisen“. In westdeutschen Ohren klingt es reichlich seltsam, dass eine solche Ausreise nur dann gewährt wurde, wenn sich der Willige als notorisch unwillig erwies und den staatlichen Nacherziehungsversuchen erfolgreich widerstanden hatte. Derart Unsozialisierbare lernten dann alle pädagogischen Instrumente des sozialistischen Staates kennen, um schließlich gegen harte Devisen ins Land des Klassenfeindes abgeschoben zu werden. Anders als den meisten seiner Vorläufer blieb Marko Martin das letzte Erziehungsmittel unbelehrbarer linker Dissidenten, der Knast, erspart. Auch er profitierte von der geheimen Freikaufregelung, die schon seit den 60er Jahren zur Stabilisierung der DDR-Ökonomie harte Devisen generierte. Doch auch die knapp 100.000 Deutschen Mark, die ein verlorener Sohn dem Vaterland der Werktätigen einbrachte, konnten den Wettlauf der Systeme nicht mehr zugunsten des „Gesetzes der Geschichte“ wenden.

Als linker Kritiker des Staatssozialismus auf der Suche nach einer solidarischen Lebensform lockte MM die BRD nicht als Traumland, doch wohl mehr als nur ein Exil, das einen bloß duldete. Ironischerweise waren es gerade diejenigen in der DDR, die sich von der Marx’schen Freiheitsidee angesprochen fühlten, die auch am längsten auf Reformierbarkeit des Staates gehofft hatten und ausharrten. MM bewahrte vor jenem Übermaß an Gutgläubigkeit seine Verankerung in einer anarchistischen Tradition, die schon Vater und Großvater erfüllt hatte. Man stand der Obrigkeit jeder Couleur skeptisch gegenüber. MM nutzte schließlich seine Volljährigkeit, um mit dem real-existierenden Kleinbürger-Sozialismus zu brechen. Zuvor hatte er sich schon der Freien Deutschen Jugend verweigert; damit von jedem akademischen Studium ausgeschlossen, blieb nur der Weg in den Westen.

Auch als DDR-Bürger schleppte man in Westdeutschland einen Migrationshintergrund mit sich herum: Ich selbst kam als 9-Jähriger in den Goldenen Westen. Es war die Zeit des Kalten Krieges und der Kanzlerschaft Ludwig Erhards, dem Vater des Wirtschaftswunders. Als „Rucksackdeutscher“ – so hieß damals noch höchst konkret eine solche Person mit Migrationshintergrund – in einem niedersächsischen Dorf angekommen, musste man sich sein Heimatrecht verdienen. Nicht allzu lange wurde der Lehrersohn von der Dorfjugend als „Russe“ tituliert. Nachdem auch der thüringische Dialekt dem Hochdeutschen gewichen war, musste nur noch der Stadtjunge halbwegs wegsozialisiert werden.

MM dürfte mit seinen damals 19 Lebensjahren länger mit der schönen neuen Welt gefremdelt haben. So lag es nahe, dass er die Nähe zu denen suchte, die unter schwierigeren Bedingungen ihre Erfahrungen mit der kommunistischen Realität marxistischer Prägung gemacht hatten. Noch vor der Ausreise hatte ihn der Vater auf Jürgen Fuchs hingewiesen, der schon in den 70er Jahren die DDR verlassen musste. Über ihn wurde er mit Manès Sperber vertraut, von dessen Individualpsychologie die Jugendarbeit von Fuchs stark geprägt war. Dieser hatte den Adler-Schüler noch kennen und schätzen gelernt. MM musste sich mit Sperbers umfangreichen biographischen Werken begnügen. Ich selbst erinnere mich noch an eine Diskussionsrunde Anfang der 1980er Jahre mit dem politisch linken Adler-Dissidenten, der seinen Lehrer gegen sich aufgebracht hatte, weil er die Individualpsychologie in den Dienst des Historischen Materialismus stellen wollte. Mein psychotherapeutischer Lehrer, Josef Rattner, hatte ihn zu einer Gesprächsrunde eingeladen. Es wurde eine peinliche Situation, weil wir Adepten der Großgruppen-Therapie dem agilen alten Mann theoretisch in keiner Weise das Wasser reichen und dem Leben des Gastes kaum mit Interesse begegnen konnten.

Nach dieser langen Einleitung nun aber zu Marko Martins Dissidentisches Denken – Reisen zu den Zeugen eines Zeitalters. Im Vorwort begegnete mir ein Autor, dem ich anmerkte, dass er von Herzens-Dingen redet. Dabei wendet er sich an einen Leser, von dem einiges an Kenntnissen der Geschichte der sozialistischen Bewegung abgefordert wird. Ich jedenfalls kannte manchen der Porträtierten kaum vom Namen her, die hier auf über 500 Seiten vorgestellt werden. Die wenigsten von ihnen leben noch. Deshalb führten die meisten Reisen MMs in Werk und Biographie als imaginäre Begegnungen. Dabei lernt der Leser Bekannte und Vergessene kennen. Sie seien hier bloß aufgezählt: Raissa Orlowa-Kopelew – Jürgen Fuchs – Manès Sperber – Hans Sahl – Melvin J. Lasky – Pavel Kohout – Josef Škvorecký- Milan Kundera – Horst Bienek – Jerzy Giedroyc und Zofia Hertz – Thomas Venclova – Czesław Miłosz – Arthur Koestler – Francois Fejtö – František Listopad – Elisabeth Fisher-Sanjer – Robert Schopflocher – Edgar Hilsenrath – Alexander Spiegelblatt – Aharon Appelfeld – Anne Ranasinghe – Mariana Frenk-Westheim.

Was mich an dem Buch von Marko Martin beeindruckt hat, war neben der schönen Aufmachung das breite Spektrum an Persönlichkeiten, die hier gewürdigt werden, und wie sie gewürdigt werden. Thematisch vereint alle, dass sie sich nach Gewissenskämpfen vom einzig wahren Glauben abgewendet haben, um sich hierdurch in einer Position zwischen den Stühlen wiederzufinden. An dieser Stelle muss noch ein Hinweis auf das Niveau der Darstellung der vorliegenden Essay-Sammlung eingefügt werden. Anders als westliche Linke in der Tradition der Frankfurter Schule um Horkheimer und Adorno, die ihr gelobtes Land des Sozialismus im antikolonialistischen Kampf in südamerikanischen Staaten im Aufbau wähnten, zumeist ohne je deren Realität kennengelernt zu haben, hatte MM seine persönlichen Erlebnisse mit Theorie und Praxis eines „Arbeiter- und Bauernstaates“. Er durfte in der DDR die Konsequenzen auskosten, die eine offene Kritik am verordneten Glauben im „real existierenden Sozialismus“ einbrachte. Die Mehrheit seiner Zeitgenossen nahm den Zwang der Rechtgläubigkeit hin und bewies ihre Linientreue durch den korrekten Gebrauch des ihnen abverlangten Vokabulars.

Warum nun, so fragte ich mich bei der Lektüre seiner teilweise ungemein lebendigen Berichte, heißt der Titel des Buches Dissidentisches Denken und nicht etwa „Leben“? Denn MM betont immer wieder seine Hochachtung für Lebensläufe, die allen Anlass zu resignativer Enttäuschung boten, jedoch die Betroffenen nicht ihren Lebensmut und ihre Menschenfreundlichkeit einbüßen ließ. Manches von dem dürfte seiner eigenen freundlich-aufmerksamen Zugewandtheit als interessierter Besucher zu verdanken sein. Seine fragende Haltung verriet offenbar diesen Überlebenden, dass die mit dem letzten Weltkrieg nun untergegangene Kultur wohl doch Erben gefunden hatte. Ihre noch lebenden Vermittler faszinierten als die letzten Vertreter einer heute fremden Kultur den liebenswürdigen Chronisten. Er entdeckte Menschen, die in sich selbst einen eigentümlichen Halt zu besitzen schienen. Manches spricht dafür, dass die von MM bewunderte Fähigkeit, Ideen zu revidieren, die von den ehemaligen Genossen als ewige Wahrheiten gehandelt wurden, nicht allein eine Frage des richtigen Denkens ist.

Mir blieb beim Lesen das Diktum Manès Sperbers im Sinn: Auch wer gegen den Strom schwimmt, schwimmt im Strom. Offenbar ist jede Apologie des Nonkonformismus immer in Gefahr, das Gegen-den-Strom-Schwimmen mit dem Einhalten einer selbstbestimmten Richtung zu verwechseln. Vielleicht fehlen uns weniger die richtigen Ideen für das soziale Zusammenleben als vielmehr eine zu ihr als Bedingung gehörige Lebenswelt; vielleicht benötigen wir sie als ein Übungsfeld, auf dem erst eine soziale Mindestkompetenz erworben werden könnte. Das wären Menschen, die das Unterscheidungsvermögen besäßen, all die großen Verführer als das zu betrachten, was sie sind: Demagogen, vor denen wir lieber Angst haben sollten, statt scheinbar großherzig in ihnen Dialogpartner erkennen zu wollen. Was solche armen Gestalten bewirken, wenn sie nicht rechtzeitig im Jenseits landen, darüber gibt Marko Martins Buch bedrückenden Aufschluss, aber auch die Hoffnung, das Vorbild seiner Protagonisten möge noch so manchem Mut machen und Kraft geben.