Die Argonauten auf Long Island
Autor*in: | Monika Plessner |
---|---|
Verlag: | Rowohlt, Berlin 1995, 159 Seiten |
Rezensent*in: | Ulrich Kümmel |
Datum: | 19.03.2025 |
In ihrem Buch Die Argonauten auf Long Island schildert Monika Plessner zunächst die Zeit, in der sie dem jüdischen Anthropologen, Philosophen und Soziologen Helmuth Plessner (1892–1985) begegnete, dem Mann, mit dem sie später 34 Jahre ihres Lebens teilte. Um ihren Text besser zu verstehen, ist ein kurzer Blick auf ihre Biografie hilfreich.
Monika Plessner, geborene Atzert (1913–2008), entstammte einer gebildeten Familie. Ab 1932 studierte sie Kunstgeschichte, Archäologie und Literaturgeschichte. 1936 heiratete sie den Kunsthistoriker Hans Tintelnot, von dem sie sich 1945 trennte. Sie war nun alleinerziehende Mutter mit zwei Töchtern. Erst nach dem Krieg, 1948, konnte sie ihre Promotion abschließen. Ihr besonderes Interesse galt der Erwachsenenbildung. Ab 1950 leitete sie die Volkshochschule in Lemgo/Ostwestfalen. In dieser Kleinstadt empfand sie sich als Außenseiterin und zog 1951 nach Göttingen, wo sie ihr Konzept zur Erwachsenenbildung offiziell einreichte. Als Gutachter wurde Helmuth Plessner, Dozent für Soziologie und Philosophie an der Universität Göttingen, bestellt.
Nachdem sie ihm das Manuskript zugesandt hatte, kam es zur ersten Begegnung. Während des Gesprächs fiel ihr Blick auf ein Bildnis des Malers Max Beckmann. Als sie erwähnte, dass sie vor einiger Zeit eine Radierung desselben Künstlers erworben hatte, war das Eis gebrochen. Der 60-jährige Plessner zeigte großes Interesse an der deutlich jüngeren, faszinierenden Frau. Die beiden trafen sich nun regelmäßig, und bereits ein Jahr nach ihrer ersten Begegnung heiratete das Paar im Dezember 1952. Mit der Heirat eröffnete sich für Monika Plessner eine neue, ihr bislang verschlossene Welt, die Welt der jüdischen deutschsprachigen Elite vor und nach 1933. Für Monika Plessner war es nicht leicht, als deutsche Ehefrau in die Welt der ehemals emigrierten Juden hineinzuwachsen. Sie berichtet detailliert über die vielfältigen Beziehungen ihres Mannes zu den unterschiedlichsten jüdischen Gelehrten der Vorkriegszeit.
In Die Argonauten auf Long Island gibt es einige Kapitel, die aus dem Gesamttext herausragen und das Buch besonders lesenswert machen: Ein Abend bei Adorno, Gruppenbild mit Horkheimer, Die Argonauten auf Long Island, Mit Hannah Arendt bei Julie Brown Vogelstein und Pioneer`s Progress.
Theodor W. Adorno, einer der führenden Denker der Kritischen Theorie, musste 1952 aufgrund seiner amerikanischen Staatsbürgerschaft für ein Jahr in die USA zurückkehren. Für diese Zeit suchte er eine Vertretung für seine akademischen und administrativen Aufgaben am Frankfurter Institut für Sozialforschung und fand sie in Helmuth Plessner. Zum gegenseitigen Kennenlernen lud Adorno die Plessners zu einem Abendessen ein. Hier lernten sie auch Gershom Scholem kennen, einen angesehenen jüdischen Religionshistoriker und Experten für jüdische Mystik, einen Mann mit charismatischer Ausstrahlung. Zwischen ihm und den Plessners entwickelte sich in der Folge eine lebenslange Freundschaft.
Nach Adornos Abreise war Max Horkheimer als Leiter des Instituts der Ansprechpartner für Frau Plessner, die im Ersatz für Frau Adorno organisatorische Aufgaben übernommen hatte. Als Horkheimer Frau Plessner nach ihrem beruflichen Werdegang fragte, reagierte er auf ihre Tätigkeit in der Erwachsenenbildung herablassend. Die Frankfurter Schule strebte eine radikale Veränderung der Gesellschaft an, Reformismus war ihr fremd. Plessner selbst stand der Frankfurter Schule kritisch gegenüber, da seine anthropologischen Arbeiten dort wenig Anerkennung fanden. Trotz dieser Differenzen verlief die Zusammenarbeit befriedigend.
1962 erhielt Helmuth Plessner als erster Absolvent der neu gegründeten Theodor-Heuss-Stiftung eine Gastprofessur an der New School for Social Research auf Long Island, New York. Ihm zu Ehren fand in dem Landhaus des Dekans ein gesellschaftliches Beisammensein statt, an dem vor allem jüdische Professoren mit ihren Ehefrauen teilnahmen. Diese Emigranten nannte der Leiter der New School seine „Argonauten“. Dieser Begriff Die Argonauten bezog sich auf Max Beckmanns Triptychon, das er kurz vor seinem Tod (1950) in Die Argonauten umbenannt hatte.
In Folge der Einladung kam es zu vielen Kontakten zu ehemaligen jüdischen Emigranten in New York. So lernten die Plessners die wohlhabende jüdische Kunsthistorikerin Julie Braun-Vogelstein kennen und trafen bei ihr die mit der Gastgeberin eng befreundete Hannah Arendt mit ihrem zweiten Ehemann Heinrich Blücher. Das Verhältnis zwischen Monika Plessner und Hannah Arendt war allerdings schwierig. Arendt hatte 1938 eine Arbeit über Rahel Varnhagen angefertigt. In dieser Schrift setzte sie sich kritisch mit der Rolle der Juden und ihrem Bedürfnis nach Assimilation auseinander. Monika Plessner verehrte Rahel Varnhagen seit ihrer Kindheit und empfand Arendts Darstellung als lieblos und herabwürdigend. Als dann 1963 Arendt ihren Prozessbericht über den Eichmannprozess in der Zeitschrift New Yorker veröffentlichte, stieß dieser innerhalb der jüdischen Gemeinschaft und auch bei Monika Plessner auf heftige Ablehnung. Eine tragende Figur im Sturm der Entrüstung gegen Hannah Arendt war damals Plessners Freund Gershom Scholem. Der Abend bei Julie Braun-Vogelstein selber verlief allerdings harmonisch.
In dem Text Pioneer’s Progress widmet sich Monika Plesser dem Leben und Werk von Dr. Alwin Johnson, Gründungspräsident der New School auf Long Island. Dieser hatte 1919 die Abenduniversität nach dem Vorbild deutscher Volkshochschulen ins Leben gerufen. 1933 wandelte er sie in ein Zentrum für vertriebene, meist jüdische Gelehrte um. Johnson war von Monika Plessners Wirken in der Erwachsenenbildung begeistert. Daraus entwickelte sich eine Freundschaft, in deren Verlauf Johnson den Plessners seine Autobiografie Pioneer’s Progress schenkte. In diesem Buch beschreibt er viele prägende Erlebnisse, darunter auch seine tiefe Erschütterung über die damalige Entwicklung in Deutschland.
Der gemeinsame Lebensweg des Paares bis zu Helmuth Plessners Tod 1985 umfasst vier weitere Kapitel: Nicht in Andorra beschreibt eine von Scholem kritisch bewertete Lesung Max Frischs über sein Theaterstück Andorra. Der neue Freund thematisiert nach einem ersten Schlaganfall Plessners Freundschaft zu dem Herzspezialisten Manes Kartagener. Nach der Gesundung folgte eine mehrjährige Lehrtätigkeit an der Züricher Universität (1965-1972). In Sils Maria – zum letzten Mal traf das Ehepaar noch einmal frühere Weggefährten. Der letzte Gast schildert dann den letzten Besuch des Freundes Gershom Scholem. Helmuth Plessner verstarb im Alter von 93 Jahren in Göttingen.
In ihrem Buch führt uns die Autorin in die vergangene Epoche der jüdischen Kultur in Deutschland vor 1933. Sie schildert die Welt jüdischer Gelehrter, die das geistige Leben jener Zeit maßgeblich prägten und bereicherten – und die aufgrund der nationalsozialistischen Verfolgung ins Exil gezwungen wurden. Viele heute weitgehend vergessene jüdische Intellektuelle erfahren hier ihre verdiente Würdigung. Monika Plessner zeichnet eindrucksvoll nach, welchen schmerzlichen Verlust Deutschland durch die Vertreibung dieser Denker erlitt. Ihre Erzählweise ist lebendig und einfühlsam, sodass die Geschichte dieser bedeutenden Persönlichkeiten für uns wieder greifbar wird.