1000 Jahre Freud und Leid – Erinnerungen
Autor*in: | Ai Weiwei |
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Verlag: | Penguin Verlag, München 2021, 418 Seiten |
Rezensent*in: | Judith Riester |
Datum: | 11.03.2022 |
In seiner 81 Tage währenden Haft an einem geheimen Ort und ohne Kontakt zu seinen Angehörigen entstand in dem chinesischen Künstler und Aktionisten Ai (Nachname) Weiwei (Vorname) der Wunsch, seinem Sohn Ai Lao etwas über sich und seine Vorfahren und die Zeitumstände Chinas in deren Lebensspanne zu übermitteln. Er selbst habe sich als junger Mensch zu wenig dafür interessiert, was sein Vater Ai Qing als geachteter und geächteter Dichter sowohl im alten China unter den Kuomintang und später im kommunistischen China bis 1979 erleiden musste, wo er als „Rechtsabweichler“ galt, in die Verbannung geschickt und massivst gedemütigt wurde. Der Titel Ai Weiweis bezieht sich auf die untergegangene Stadt Jiaohe (108 v.Chr.-1250, Xinjang), die sein Vater in seinem Gedicht aus dem Jahre 1980 heraufbeschworen hat. Es endet mit: „ … von tausend Jahren Freud und Leid/ blieb keine Spur zurück/ Ihr, die ihr lebt, lebt in der Fülle/ hofft nicht, dass die Erde Erinnerung bewahrt.“
Damit plädiert Ai Qing ebenso wie Ai Weiwei für ein aktives Geschichtsbewusstsein, das auch narrativ weitergegeben wird – was die Kommunisten weitgehend unterbanden – zumal in einer Familie, die mehrfach verbannt wurde und emigrieren musste, und der es mühevoll ist, in einem anderen Landstrich oder Kontinent dauerhaft Wurzeln zu schlagen.
Die fast drei Monate dauernde Haft hat eine Wende in Ai Weiweis Leben bedeutet, denn es wurde ihm unmissverständlich klar gemacht, dass er seine Gesinnung in China nicht leben könne und er dort untergehen würde. Von einer früheren Züchtigung mit Schlag auf den Kopf hatte er sich nur erholt, weil er zufälligerweise im Rahmen einer Ausstellungseröffnung 2009 im westlichen Ausland kollabierte und zügig operiert werden konnte. Es wurde ihm ein Blutgerinnsel aus dem Gehirn entfernt.
Ais aufrechte Haltung und seine Unerschrockenheit in seiner Auseinandersetzung mit den Vertretern des Staates werden in folgender Schilderung (die Ai heimlich aufgenommen hatte) deutlich:
„AI: Warum haben Sie mich geschlagen?
POLIZEI: Wer hat Sie geschlagen? Wer will das gesehen haben?
AI: So benimmt sich also die Polizei?
POLIZEI: Was haben Sie denn für Beweise? Wer hat Sie geschlagen? Welcher war es? Und wo wurden Sie geschlagen? Wo sind Sie verletzt? Sie können nicht einfach wilde Behauptungen aufstellen.
AI: Sie verschwenden meine Zeit.
POLIZEI: Wer hat Sie geschlagen, frage ich Sie.
AI: Wer mich geschlagen hat? Hätten Sie mich nicht geschlagen, wie wäre dann mein T-Shirt zerrissen?
POLIZEI: Sie haben es selbst zerrissen!
AI: Aha, ich habe es also zerrissen. Und ich habe mich wahrscheinlich auch selbst verprügelt.
POLIZEI: Genau!
Ai Weiweis Gesinnung kann ich nach dem Lesen seiner Erinnerungen als unangepasst, mutig, humanistisch, vom Gerechtigkeitssinn durchdrungen, freiheitsliebend und aufklärerisch bezeichnen. Wie schon erwähnt, ist er überzeugt, dass Geschichtsverstehen sinnvoll ist; er will Menschen und Ereignisse verstehen und das „Verstandene“ vermitteln, mitunter mit unkonventionellen Methoden. Zurück zur Familie und ihrer Geschichte. Hier platziere ich meine einzige negative Kritik an Ai Weiweis schönem, packenden und aufschlussreichen Buch. Die unchronologische Verflechtung der Zeitebenen erschwerte mir das Lesen: Beispielsweise der Sprung von 1972 nach 1950 (Nomadendasein des Vaters) erfolgt inmitten des Kapitels und war irritierend. Gerne hätte ich die Biografie Ais vor der Umstrukturierung durch ein zweites Lektorinnen-Team gelesen, um einzuschätzen, ob die Lesbarkeit mit dieser endgültigen Druckversion tatsächlich verbessert wurde. Aber sonst enthält das spannende, 416 Seiten umfassende Buch neben etlichen Fotos und erläuternden Zeichnungen 21 Werke Ais mit Werkbeschreibungen im Anhang. Die Umschlaggestaltung in kräftigen Farben ist vielseitig, ansprechend, verspielt, mit mythologischen und gegenwärtigen Anspielungen. Es gibt vieles zu entdecken, auch im Frontispiz.
Last but not least erhält der Leser eine Fülle von Informationen und anregenden Gedanken. Der Großvater Ais war ein wohlhabender, aufgeschlossener und belesener Kaufmann. Er hatte sich als einer der ersten seinen Zopf abgeschnitten, erlaubte den Mädchen, sich nicht mehr die Füße zu binden und schickte seine Kinder zur Schule, den Ältesten zum Studieren ins Ausland, nach Paris. Die Beziehung zu Qing war dennoch distanziert und autoritär. Zur Amme, dem Trost seiner ersten vier Jahre, hatte dieser eine viel liebevollere Beziehung als zur Mutter gehabt. Eines seiner Gedichte zeugt davon. Dass er nicht Wirtschaft und Jura, sondern Kunst studierte, missbehagte Weiweis Großvater immens; dieser verachtete die Kunst Qings als nicht traditionell genug. Qing hatte aber schon Erfolg und einen gewissen Ruf. In Paris war er mit dem Sozialismus in Berührung gekommen und ging nach seiner Rückkehr vom Studium für seine Aktivitäten noch unter den Nationalisten Chinas für sechs Jahre ab 1932 ins Gefängnis.
Später, unter den Kommunisten, war es aber nicht besser. Zwanzig Jahre dazwischen: Qing hatte zunächst als Lehrer in Hangzou gearbeitet, von wo er mit seiner ersten kleinen Familie 1937 vor der japanischen Invasion nach Wuhan floh. Von dort ging er als Dozent der Hochschule der Nationalen Revolution nach Linfen und unter dem Eindruck greulicher Kriegsereignisse zurück nach Wuhan; von dort nach Guilin und ergatterte die Literatur-Redaktionsstelle einer Zeitung. Er war dichterisch produktiv und erfolgreich. Die Ehefrau – es war eine arrangierte Ehe – ging unter den sie einholenden Kriegsereignissen erneut schwanger ins Heimatdorf zurück und Ai Qing gab sich Liebesabenteuern hin. Er wurde an eine Schule in Xinning berufen, wo er unterrichtete und mit einer ehemaligen Schülerin aus Linfen zusammenlebte. Die Ehefrau gebar auf dem Weg zurück nach Xinning einen Sohn, den sie bei Ai Qing zurückließ, nachdem sie in die Scheidung eingewilligt hatte. Eine lukrativere Stelle in Chongqing lockte die neue kleine Familie in die Kriegshauptstadt. Sie verloren den kleinen Jungen aus der früheren Ehe. Die zweite Ehe bekam Risse, auch wegen dieses erkrankten und gestorbenen Jungen. Nach dem Xi’ am Zwischenfall (die Kommunisten gewannen während des Krieges an Einfluss, S. 76) arbeitete, lehrte Qing als Literaturdozent einer Schule unweit von Chongqing. Dort stattete Zhou Enlai einen Besuch ab und lud den inzwischen mit drei Gedichtbänden seit fünf Jahren bekannten Dichter ein, sich Yan’an, der kommunistischen Bastion, anzuschließen. Wieder war Qing nicht angepasst genug und wurde ab 1958 zur Umerziehung in die Verbannung geschickt, mitsamt seiner Familie. Seine dritte Frau, die Mutter Weiweis (mit zwei Kindern aus einer früheren Verbindung) konnte aber die wiederholten Versetzungen nicht mitmachen, sodass in den sechziger Jahren Ai Weiwei und Stiefbruder Gao Jian (+5 J.) mit dem Vater zusammen lebten. Der Vater war als der schwärzeste Konterrevolutionär häufig besonderer Demütigung ausgesetzt. Die Söhne mussten früh erwachsen sein und den Haushalt besorgen, was für Weiwei bedeutete, einen Ofen zu bauen und Brennholz, aber auch Essen heranzuschaffen. Die einfachsten Gebrauchsgegenstände waren nicht vorhanden, und das erschwerte das Leben. Als Weiwei einmal zum Pferdestall in der Nähe ging, wurde er als Saboteur gebrandmarkt, schließlich war er der Sohn eines Angehörigen der „fünf schwarzen Kategorien“. Sein Vater schimpfte aber nicht mit ihm. Gefühle auszudrücken, war in der Familie höchstens indirekt möglich. Dies erklärt womöglich, warum der Stiefbruder in keiner Schilderung als Gefährte vorkommt. Nur der jüngere Bruder Ai Dan findet Erwähnung.
Das psychische Befinden des Vaters war Weiwei unbekannt; körperlich war er wegen der schlechten medizinischen Versorgung und Verschleppung von Krankheiten zuweilen kränklich, einmal dem Tod nahe. Zuletzt wohnten sie vierzehn Monate in einem Erdloch (übrigens penibel aufgeräumt!) im Nordwesten Chinas in „Klein-Sibirien“direkt an der Wüste Gurbantünggüt, während sie vorher in die Wälder im Nordosten verbannt waren, wo die Arbeit leichter gewesen war. Hier, in Xinjiang, musste der Vater Latrinen putzen, was Schwerstarbeit war, besonders im Winter, da alles hart gefroren war. Auch hatte er in dieser Zeit Schreibverbot. Ai Qing hatte viele Freunde und Unterstützer, u. a. war er mit Pablo Neruda befreundet, traf später auch mit Jorge Amado zusammen. Bestimmt hat ihm diese Verbundenheit in diesen sehr schweren Jahren geholfen. Zuletzt kam Weiweis Mutter mit dem kleinen Bruder Ai Dan, was das Leben wegen der Kochkünste seiner liebenswerten Mutter ziemlich erleichterte.
Ai Weiwei erlangte in dieser Zeit wahrscheinlich seine Zähigkeit und Geradlinigkeit, auch indem er den Stoizismus des Vaters erlebte. Um den Rahmen einer Buchbesprechung nicht zu sprengen, will ich nun einige Zitate Weiweis zur Kunst und zur Freiheit anfügen. Wie der künstlerische Werdegang Ais war ,und was es mit seinen Kunstwerken, meist Konzeptkunst, auf sich hat, wie sich die Ideen dazu und die Umsetzung entwickelt haben, erfährt man im Buch, ohne dass es eintönig wird. Immer wieder deckt Ai Weiwei Missstände auf und bringt sie in seiner Kunst, später zunehmend in Dokumentarfilmen, zum Ausdruck. Er sagt: „Kunst, die versucht, sich von der Realität fernzuhalten, interessiert mich nicht.“ (S. 257) „Kunst endet nie … Kunst ist immer nur ein Anfang.“ (Als Template während eines Gewitters zusammenbrach und danach noch dynamischer und energetischer wirkte als vorher, S. 268)
Als er Namen von Schulkindern sammelte, die bei dem schweren Erdbeben 2008 in Sichuan in nachlässig gebauten Schulen umgekommen waren – was von der Staatsführung heruntergespielt und verschleiert wurde – organisierte Ai eine Bürgerermittlung, denn die Gräber hatten nur Nummern, und den Eltern wurde gesagt, sie verwirkten ihre Abfindung, falls sie sich beteiligten und Aussagen zum Thema Fahrlässigkeit machten. Ai Weiwei stellt fest, dass er zum Aktivisten geworden war. Er war um die Zukunft der Nation besorgt, wenn der tragische Tod so vieler Kinder gleichgültig in Kauf genommen wurde. Er bemerkt auf S. 281: „Die Realität schafft die größten Möglichkeiten für meine Kunst, und diese Erkenntnis ist der Quell meiner Zuversicht.“
„Die Kämpfe, die ich ausfechten musste, betrafen zwar mich als Individuum, aber ich fühlte mich nicht allein. Ich durfte nicht reisen, doch diese mir auferlegte Bewegungsunfähigkeit beeinträchtigte meine Arbeit nicht, sondern sie gab mir Kraft. Für mich entspringt Inspiration dem Widerstand – ohne ihn wären meine Bemühungen vergeblich. Es war mein Glück, einen echten – und mächtigen Widersacher zu haben, denn um so konkreter wurde die Freiheit – Freiheit kommt von all den Opfern, die man bringt, um sie zu erreichen.“ (S. 381) Daraus wird deutlich, dass Ai Weiwei unter dem kommunistischen Machthabern einiges zu leiden hatte. Zum Beispiel wurde sein selbst konzipiertes Sporthallen großes Atelier in Caochangdi dem Erdboden gleichgemacht. Nach der Inhaftierung an unbekanntem Ort war Ai Weiwei die Rückgabe seines Passes verweigert und er der Steuerhinterziehung in Höhe von umgerechnet 2,4 Mio Dollar bezichtigt worden. Wie durch ein Wunder konnte Ai durch 30000 Unterstützerinnen, aus dem Internet rekrutiert, eine Teilsumme auftreiben. Die Zahlung war Voraussetzung für die Annahme des Widerspruchs. Erst vier Jahre nach seiner geheimen Einzelhaft erhielt daher Ai Weiwei seinen Pass zurück und konnte ausreisen, nachdem seine Frau und sein Kind China längst verlassen hatten.
Die Schuldscheine, die er den Unterstützern ausstellte, wurden individuell und künstlerisch gestaltet und den Gläubigern zugeschickt. Wieder einmal, so Ai Weiwei, war seine „Kunst fester Bestandteil einer Bürgerbewegung“ geworden. (Es gab auf den Schuldscheinen einen Stempel mit einem „Grasschlammpferd“ als Symbolisierung des Widerstandes gegen Internetzensur sowie einige „Porzellansonnenblumenkerne – die Samen der Freiheit“ die ebenso wie ein Dokumentarfilm Ais über die Installation im Jahr 2010 mit versandt wurde.)