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Biographien

Thomas Mann – Glanz und Qual

Autor*in:Hanjo Kesting
Verlag:Wallstein Verlag, Göttingen 2023, 400 Seiten
Rezensent*in:Matthias Voigt
Datum:18.07.2023

Die Lektüre von Hanjo Kestings Essay-Sammlung war für mich von Anfang bis Ende ein erhellender und belehrender Lese-Genuss und zugleich immer wieder ein Anlass, mir Gedanken zu machen über das eigene Leben und über das, was unsere Tage mit denen von Thomas Mann verbindet. Der Titel des Buches Thomas Mann – Glanz und Qual kündigt an, dass zwei offenbar polar angelegte Dimensionen das Leben des Dichters ausgemacht haben. Thomas Mann führte einerseits ein bürgerliches und als Schriftsteller außerordentlich erfolgreiches Dasein, das mit dem Nobelpreis 1929 einen glanzvollen Höhepunkt erfuhr. Andererseits plagten ihn homoerotische Impulse und Phantasien, denen er – soweit die Biographen es bisher erkundeten – niemals konkret Ausdruck verliehen hat; Hinweise auf ein Coming-Out sucht man in seinen Tagebüchern und Briefen jedenfalls vergebens.

Der Vielschichtigkeit seines Vorhabens, Thomas Manns Leben und Werk zu charakterisieren, trägt Kesting insofern Rechnung, als er sein Buch als Essay-Sammlung aufgebaut hat: Sechs Abhandlungen gelten den großen Romanen; weitere Aufsätze behandeln die Rolle von Musik, den Bruderzwist mit Heinrich, die Beziehung zum Sohn Klaus und zuletzt das Grandhotel als favorisierte Reise-Residenz von Thomas Mann. Den Schluss seiner Abhandlungen bilden die erst 1975 posthum freigegebenen Tagebücher. Deren sukzessive Veröffentlichung auf über tausend Druckseiten beanspruchte ein ganzes Jahrzehnt. Aus ihnen entnimmt Kesting einige unbescheidene Auto-Charakterisierungen des Autors wie: „Bin der Letzte, der überhaupt weiß, was ein Werk ist.“ Hervorzuheben an Kestings Schreibstil ist ansonsten die wohltuende Klarheit, die auf jeden intellektuellen Manierismus verzichtet.

Während der ältere Bruder Heinrich Mann in die Literaturgeschichte als Autor von Der Untertan und damit eindeutig als Vertreter des republikanischen Deutschland einging, teilt sich die Thomas Mann-Rezeption bis heute in ideologischer Hinsicht in Gegner und Freunde. Letztere bewundern an ihm, wie er vom Propagandisten des Konservatismus in den Betrachtungen eines Unpolitischen (1918) zum Kämpfer gegen die faschistischen Machthaber wurde, der sich in Radio-Ansprachen an die Deutschen aus dem amerikanischen Exil energisch und wortgewaltig gegen die Hitlerei auflehnte. Bei manchen Vertretern der 68er-Generation fiel er dennoch unter das Verdikt eines bürgerlichen Literaten.

Eine intellektuell und literarisch sehr anspruchsvolle Auseinandersetzung mit dem Faschismus gelang Thomas Mann mit seinem Roman Doktor Faustus (1947). Darin wollte der Dichter das Faszinosum des Totalitarismus für viele Deutsche und den damit verbundenen deutschen Sonderweg in den Abgrund der vollständigen Inhumanität ausdeuten. Im Mittelpunkt des Romans steht der Tondichter Adrian Leverkühn, der sich der atonalen Musik verschrieben hat. Um zu einem musikalischen Revolutionär werden zu können, geht er einen faustischen Pakt mit dem Teufel ein und erkrankt an zuletzt tödlicher Syphilis.

In Doktor Faustus (so Kesting) erweist sich Thomas Mann zum wiederholten Mal als Poeta doctus, als ein enorm gelehrter und kundiger Dichter, der den Stoff seines Textes beinahe wie ein Wissenschaftler oder Philosoph beherrschte, ohne jedoch jemals als Student eine Universität besucht zu haben. Wie er im Roman etwa die Geschichte und das Wesen der Musik von Beethoven über Wagner bis hin zu Schönbergs Zwölftonmusik elegant und leichtfüßig erzählt, ringt jedenfalls jedem wohlwollenden Leser allerhöchsten Respekt und allergrößte Anerkennung ab.

Zum Verständnis der neuen Musik war Theodor W. Adorno für Thomas Mann sehr hilfreich, zumal der Erstere mit ihm das kalifornische Exil teilte. Es entwickelte sich eine schwierige, aber anhaltende und fruchtbare Beziehung zwischen dem in musikalischen Fragen sehr beschlagenen Philosophen und dem Dichter. Die Tagebücher Thomas Manns geben beredt Auskunft darüber, was die beiden vereinte, aber auch darüber, wo Mann seine Existenz als Künstler von der des Denkers geschieden wissen wollte.

„Es gibt kein richtiges Leben im falschen“, heißt die bekannteste Sentenz von Adornos Reflexionen aus dem beschädigten Leben, einer Aphorismensammlung, die unter dem Titel Minima moralia 1951 einige Jahre nach dem Faustus-Roman erschienen ist. Im Tagebuch fragte sich Thomas Mann dazu: „Beständige Kritik der Kulturindustrie und der falschen Gesellschaft. Aber welche ist die richtige?“ Und in einem Brief an Adorno klagte der Dichter: „Gäbe es je ein positives Wort bei Ihnen, Verehrter, das eine auch nur ungefähre Vision der wahren, der zu postulierenden Gesellschaft gewährte!“ Wie aber klänge nun das „positive Wort“, dessen Ausbleiben Thomas Mann bei Adorno konstatierte? Der Letztere verwahrte sich jedoch beharrlich gegen das Herbeireden des Positiven – dieses müsse und werde sich aus dem dialektischen Kampf der Widersprüche in unbestimmbarer Zukunft zeigen und dann auch werden.

Als einen zentralen Kunstgriff des Romanciers untersucht Kesting in seinem Buch auch das Spiel mit Leitmotiven, das sich seit den Buddenbrooks durch Thomas Manns Oeuvre zieht. Als Untergangs-Motiv etwa taucht es das erste Mal im Lübeck des alten Johann Buddenbrook auf, um von ihm ausgehend den Zerfallsprozess der bürgerlichen Welt auszudrücken. Das Motiv wiederholt sich in der Novelle Tod in Venedig und später im Zauberberg, und wir finden es erneut im Doktor Faustus sowie in der späten Erzählung Die Betrogene.

Zum Schluss noch einige Überlegungen Kestings zu Thomas Manns Roman Joseph und seine Brüder, worin der Dichter die mythologisch-biblische Gestalt des Joseph aus dem Alten Testament in die Neuzeit transponiert hat. Auf Joseph warten immer neue Aufgaben, die ihm von außen, aber irgendwie doch auch als selbsterwähltes Schicksal zuteil werden. Seine Entwicklung vollzieht sich in durchlittenen Anfechtungen ebenso wie in erfolgreichen Expansionsschritten. Dabei lebt er den uralten Mythos der Nachfolge. Das geht nicht ab ohne Lebenskrisen, in denen eine individuelle Persönlichkeit sich ausbilden kann. Im Nachleben und Nacherleben der uralten Formen wird das mythologisch Vorgegebene abgewandelt und bildet sich Neues heraus.

Hanjo Kestings Buch hinterlässt mit seinen Werkanalysen und biographischen Annäherungen ein Bild von Thomas Mann, das in vielerlei Hinsicht mehr Tiefenschärfe und pointierte Persönlichkeits-Charakteristik aufweist als so manche voluminöse Biografie über den Schriftsteller, der seine Lebensbilanz im Tagebuch einmal recht treffend mit den Worten gezogen hat: „Es gab wohl selten ein solches Ineinander von Qual und Glanz.“