Munch. Lebenslandschaft
Künstler*in: | Edvard Munch |
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Ausstellung: | Museum Barberini |
Rezensent*in: | John Burns |
Datum: | 07.02.2024 |
In der Kunst des norwegischen Malers Edvard Munch (1863-1944) wird die Natur in eine Lebenslandschaft verwandelt, wie das Ausstellungsplakat des Museums Barberini in Potsdam verkündet. Die von Munch dargestellten Landschaften spiegeln nicht nur die innere Verfassung des Malers wider; sie enthalten auch Interpretationen, die der Maler in den Wäldern, Seen und schneebedeckten Alleen seiner Heimat quasi vorgefunden hat. In einer bekannten Waldszene stehen zum Beispiel Kinder vor einem dunklen Kiefernwald, der sowohl Neugier und Entdeckerfreude als auch Misstrauen und Angst in den kleinen Seelen auslöst. Vielleicht werden die Kinder bald umkehren, weil sich die Bäume unter dem Einfluss eines heraufkommenden Sturms schon bewegen; der dunkle Himmel im Hintergrund des Bildes wirkt bedrohlich.
Wie der Phänomenologe Edmund Husserl (1859-1938) den Begriff Lebenswelt verstand, ist das Bewusstsein intentional gerichtet. Dies bedeutet, dass wir die menschliche Realität nicht primär in objektiven Kategorien von Raum, Zeit und Kausalität wie die Naturwissenschaftler wahrnehmen. Wir sehen und erleben unsere Umgebung zunächst existentiell; sie ist „für uns“ und erst später „an sich“ und objektiv gegeben, wenn wir sie wissenschaftlich untersuchen.
So hat ein Bild wie Kinder im Wald mehrere Zeitdimensionen und Bedeutungsebenen. Der Betrachter wird an Märchen erinnert, die er selber als Kind gehört hat. Der Wald wirkt im Vergleich zum Entwicklungsstand der Kinder kompakt, massiv und ausgereift. Die fragile Seinsweise des Menschen trifft im Bild auf die Indifferenz der Natur, so dass wir eventuell an den Ekel des Sartreschen Alter Egos Roquentin im Roman La Nausée erinnert werden. Hier ist der Baum Bestandteil einer absurden Welt, in der wir Menschen vor der Aufgabe der Sinnfindung stehen. Roquentin ekelt sich vor der Natur, weil sie ihn ermahnt, seine menschenspezifische Freiheit anzuerkennen und für sein Leben Verantwortung zu übernehmen.
Wer war nun Edvard Munch, der zu Lebzeiten die Besucher seiner Ausstellungen mit seinen Landschaften, Selbstporträts und schonungslosen Darstellungen von Krankheit, Pubertät, Eifersucht oder Einsamkeit zum Nachdenken über die realité humaine anregte? Die schwermütigen frühen Bilder und Zeichnungen des jungen Malers – Das kranke Kind (1885/86), Der Tod im Krankenzimmer (1893) und Der betende Vater (1902) - thematisieren Lebensereignisse, die Edvard Munch als Kind kaum psychisch bewältigen konnte.
Nach der Familientypologie des Frankfurter Psychotherapeuten Horst-Eberhard Richters kann die Familie Munch insgesamt als „Sanatorium“ bezeichnet werden. Auch Edvard kränkelte in jungen Jahren an Bronchitis und Gelenkarthritis, so dass er in home school vom Vater unterrichtet wurde, weil die reguläre Schule ihn überforderte. Im späteren Leben fand Munch in seiner Kunst den Halt, den er in Freundschaften und Liebesbeziehungen vergeblich suchte.
Edvard Munch wurde 1863 im norwegischen Löten als zweites Kind des Militärarztes Christian Munch geboren. Seine Mutter Laura Bjölstad, um 21 Jahre jünger als ihr Ehemann, starb elf Monate nach der Geburt ihres fünften Kindes im Alter von 30 Jahren an Tuberkulose. Die Familienatmosphäre war von einer Religiosität geprägt, welche der Vater Christian in Form von Ermahnungen und Drohungen zu seinem bevorzugten Erziehungsinstrument machte.
Offensichtlich litt Christian Munch an starken Unzulänglichkeitsgefühlen bezüglich seiner ärztlichen Fähigkeiten, die er gelegentlich durch Aggressivität seinen Kindern gegenüber kompensierte. Sein Sohn erinnerte sich später, dass sein Vater in der Erziehung unberechenbar war. Er konnte liebevoll und gütig sein, dann wiederum cholerisch. Fürsorglich dagegen war Karen Bjölstad, die nach dem Tod ihrer älteren Schwester Laura für das Wohl der fünf Kinder der Familie Munch sorgte. Die ohnehin von Schwermut überschattete Familie erlebte noch weitere Schicksalsschläge, als Laura, die jüngere Schwester Edvards, an einem religiösen Wahn erkrankte und die ältere Schwester Sophie starb.
Munch fiel in seiner sozialen Umgebung durch sein zeichnerisches Talent auf. Obwohl sein Vater ihn gern als Ingenieur gesehen hätte, setzte sich Munch nach wenigen Semestern an der Technischen Hochschule mit seinem Berufswunsch durch und wurde in Künstlerkreisen gefördert. Bald wurde er mit Stipendien belohnt, so dass er in Antwerpen und Paris sein Talent weiter schulen konnte. Er strebte aber ständig über das Konventionelle hinaus, indem er die Kunst immer stärker zum Ausdruck und Verarbeitung innerer Konflikte verwendete.
Da er gewohnt war, im Künstlermilieu Alkohol und Tabak zu konsumieren, wurde Munch zunehmend abhängig und musste 1908 nach einem pathologischen Rausch von Professor Daniel Jacobson in Kopenhagen stationär behandelt werden. Mit erstaunlicher Willensstärke und unter einfühlsamer väterlicher Anleitung des Professors gelang es Munch, abstinent zu werden. Als Teil seiner Therapie durfte der Künstler ein Porträt seines Therapeuten malen, um ihn quasi als gute Gestalt und Vaterfigur zu verinnerlichen. So konnte Munch „die schwerste Krise seines Lebens“ (Arnold 1986, 107) überleben und weiterhin innovative Kunstwerke schaffen. Auf intime Liebschaften verzichtete der Künstler.
Körperlich erschöpft durch seinen früheren Alkoholismus erkrankte Munch im Alter von 81 Jahren an einem grippalen Infekt und starb auf seinem Alterssitz in Ekely. Am Ende seines enorm produktiven Lebens wurde er in seiner Heimat Norwegen für seine Lebensleistung gefeiert und in Deutschland und Frankreich mit seinem Zeitgenossen Vincent van Gogh verglichen, der ebenfalls seine inneren Dämonen durch die Malerei zu zähmen versucht hatte.
Die Auswahl und Bildbeschreibungen in der Barberini-Ausstellung Lebenslandschaften stellen Munch und seine Kunst in einem neuen Licht dar. Vergeblich suchte ich zum Beispiel im ersten Raum nach dem wohl berühmtesten Bild des Malers Der Schrei, das ich erst gegen Ende meines Rundgangs ganz versteckt an der Seitenwand im hinteren Zimmer entdeckte. Munch soll durch die Ausstellung nicht zu stark pathologisiert werden, sondern mit einer ausgewogenen Auswahl aus seinen Hauptschaffensperioden vertreten sein.
Wald und Meer, männliche Akte am Strand von Warnemünde, Holzfäller bei der Arbeit, die große Sonne der Aula-Friese der Universität Oslo, zärtlich liebende Paare, Mädchen am Steg in bunten Sommerröcken und auch die Selbstporträts zeigen den Künstler in der Auseinandersetzung mit den großen Themen Liebe und Vergänglichkeit, Natur und Entfremdung. Vielleicht war der Maler sogar ein Vorläufer der modernen Ökologie-Bewegung. Eine Waldszene mit einem gelben Baumstamm, der bald in die Papierfabrik abtransportiert werden soll, könnte so interpretiert werden.
Der uns schon bekannte Munch, der die Museumsbesucher auffordert, die heile Welt des Impressionismus des 19. Jahrhunderts zu hinterfragen, um „zu den Dingen“ (Husserl) hinzugelangen, begegnet uns in der Lebenslandschaft der Barberini-Ausstellung auf Schritt und Tritt. Obwohl wir die extremen Zustände der Panikstörung, Depression oder Einsamkeit meistens nicht so erleben müssen wie Munch, der oft am Rande der Verzweiflung stand, können wir uns in seinen Bildern wiederfinden, wenn wir darüber reflektieren, wie wir eigene Lebensschwierigkeiten zu bewältigen lernten.
Wer eine psychologische Perspektive auf die Ausstellung bevorzugt, wird unter den Munch-Memorabilien im Museums-Shop einen Klassiker der Tiefenpsychologie entdecken. Der bekannte Text Grundformen der Angst (1961) des Psychotherapeuten Fritz Riemanns, der verglichen mit den kunstästhetischen Abhandlungen im Regal etwas deplaciert wirkt, wird uns die schwermütige Kunst des Norwegers zwar nicht erklären, aber die Kluft zwischen „unseren inneren Konflikten“ (Horney) und dem ontologischen Schrei eines Edvard Munchs verringern, so dass wir seine Bilder als „menschlich-allzumenschlich“ (Nietzsche) empfinden werden.
Literatur:
Arnold, M.: Edvard Munch. Rowohlt Taschenbuch, Reinbek bei Hamburg 1986.
Gander, H.-H. (Hrsg.): „Lebenswelt“. In: Husserl-Lexikon. WBG, Darmstadt 2010, 182-186.
Richter, H.-E.: Patient Familie. Entstehung, Struktur und Therapie von Konflikten in Ehe und Familie (1970). Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2001.
Riemann, F.: Grundformen der Angst (1961). WBG, Darmstadt