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Rezensionen
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Ausstellungen

Die Form der Freiheit – Internationale Abstraktion nach 1945

Künstler*in:Jackson Pollock, Willem de Kooning & viele weitere
Ausstellung:Museum Barberini, Potsdam im Sommer 2022
Rezensent*in:Gerhard Danzer
Datum:06.06.2022

Der Historiker Eric Hobsbawm (1917-2012), einer der Granden seiner Zunft, hat das 20. Jahrhundert in einem seiner Bücher einst als das Zeitalter der Extreme (1994) charakterisiert: Zwei Weltkriege; der Abwurf von Atombomben; grausam-barbarisch-totalitäre Ideologien (Faschismus und Bolschewismus) mit Millionen Menschenopfern; der Holocaust; Weltwirtschaftskrise; massive, weitverbreitete weltanschauliche Vorurteile (z.B. Antisemitismus, Rassismus, Imperialismus) – sehr viel mehr an fataler und zutiefst erschütternder Entwicklung der Menschheit innerhalb nur weniger Jahrzehnte lässt sich kaum ausmalen.

Dass diese historischen und gesellschaftlichen Detonationen von der Literatur und Kunst nicht nur hintendrein kommentiert oder partiell als Atmosphären und Stimmungen vorneweg ausgedrückt wurden, überrascht nicht. Darüber hinaus kam es parallel zu den politisch-gesellschaftlichen Brüchen und Ereignisketten oder auch in deren Folge zu teilweise völlig neuen künstlerischen Stilrichtungen sowie Ausdrucks-, Form- und Symbolsprachen – begonnen bei der Zwölftonmusik (Schönberg, Alban Berg, Anton Webern) über die literarische Wiedergabe des inneren Monologs (Hermann Broch, James Joyce, Marcel Proust) bis hin zu jenen bildenden Künstlern, die in der Ausstellung Die Form der Freiheit im Potsdamer Museum Barberini (von Anfang Juni bis Ende September 2022) zu bewundern sind: Vertreter der New York School sowie des Abstrakten Expressionismus einerseits (z.B. Jackson Pollock, Joan Mitchell, Lee Krasner, Mark Rothko, Willem de Kooning) und der Informellen Malerei (Informel) andererseits (z.B. Antonio Saura, Karl Otto Götz, Antoni Tàpies, Maria Lassnig, Hans Hartung, Georges Mathieu, Judit Reigl, Jean Dubuffet, Fritz Winter).

Eine erste Welle einer innovativen, von Affekten und dem Unbewussten stark geprägten Formen- und Farbensprache der Malerei im 20. Jahrhundert bedeutete der Expressionismus. Maler und Bildhauer wie Vincent van Gogh, Oskar Kokoschka, Emil Nolde, Max Beckmann, Edvard Munch, Paula Modersohn-Becker, Alexej von Jawlensky, Gabriele Münter beabsichtigten, ihren Emotionen ungefilterten Ausdruck zu verleihen. Sie lösten sich von tradierten Form- und Farbsprachen sowie vom perspektivischen Sehen, um ungehemmt mit den Objekten ihrer Bilder eins werden zu können. Sowohl in der künstlerischen Verschmelzung mit der Welt als auch in manchen ihrer Sujets erlebten sie eine Milderung ihrer oftmals durch die epochalen und gesellschaftlichen Erschütterungen ausgelösten Selbst- und Weltentfremdung.

Expressionistisch orientierte Künstler haben zusammen mit Malern, die sich dem Kubismus verpflichtet wussten, die Weiterentwicklung der figural-bildenden zur abstrakten Kunst und Malerei ermöglicht. Meist wird in diesem Zusammenhang Wassily Kandinsky als wichtiger Experimentator genannt. In seinen Kompositionen löste er sich vollständig von einer figurativen Darstellung und vertraute ganz der Ausdruckskraft von Farbe und Form – wobei es sich bei seinen Formen um primär geometrische Gebilde handelte:

Solche rein abstrakte Wesen, die als solche ihr Leben haben, ihren Einfluss und ihre Wirkung, sind ein Quadrat, ein Kreis, ein Dreieck, ein Rhombus, ein Trapez und die unzähligen anderen Formen, die immer komplizierter werden und keine mathematische Bezeichnung besitzen. Alle diese Formen sind gleichberechtigte Bürger des abstrakten Reiches (Kandinsky, W.: Über das Geistige in der Kunst (1912), Bern 1973, S. 70).

Neben Kandinsky setzte sich auch Paul Klee mit den Möglichkeiten abstrakter Kunst auseinander. Klee experimentierte mit Zeichnungen und Bildern, denen man auf den ersten Blick oftmals etwas Kindlich-Naives attestierte. Abgesehen davon, dass solche Zuschreibungen für ihn Komplimente bedeuteten, weil er der kindlichen Kreativität und Phantasie sehr hohe Wertschätzung entgegenbrachte, betonte er wiederholt, dass seine wie viele andere abstrakte Kunstwerke durchaus nicht einem bloßen Kleinkind-Gekleckse entsprächen.

Der Zweite Weltkrieg, die totalitären Regime in Europa und deren Ächtung von abstrakter und expressionistischer Kunst sowie der Antisemitismus trugen dazu bei, dass die Entwicklung hin zum Abstrakten Expressionismus kein europäisches, sondern vor allem ein US-amerikanisches Phänomen wurde. Insbesondere die New York School mit den Hauptvertretern Willem de Kooning und Jackson Pollock machte mit Farbfeldmalerei und Action Painting von sich reden. Zu den Letzteren gesellten sich Künstler wie Mark Rothko, Cy Twombly, Franz Kline, Joan Mitchell sowie die während des Zweiten Weltkriegs aus Europa in die Vereinigten Staaten emigrierten Piet Mondrian, Marc Chagall, Max Ernst und Marcel Duchamp, die alle ihren Anteil an der Entfaltung des Abstrakten Expressionismus hatten.

Die Weltwirtschaftskrise 1929, der vor allem in Europa virulente Totalitarismus (Faschismus, Bolschewismus) sowie der verheerende Zweite Weltkrieg hatten bei vielen Intellektuellen und Künstlern eine intensive und überaus kritische Debatte über Fortschritt, Kultur und Menschenbild ausgelöst. Hinzu kam 1945 der Abwurf der ersten Atombomben sowie das Bekanntwerden der unfassbaren Ausmaße des Holocausts – beides verstärkte die skeptische Überzeugung in weiten Kreisen der Kulturschaffenden, dass allein mit Vernunft und Wissenschaft die Menschheit nicht zu retten sei. Manche Vertreter des Abstrakten Expressionismus tendierten zur Meinung, dass in dieser menschheitlichen Krise viele jener anthropologischen Konstanten zum Vorschein getreten waren, die man in den sogenannt primitiven Kulturen als gegeben vermutete: ungehemmte Aggressivität und Destruktivität, ungezügelte Affekt- und Triebdurchbrüche. Ihre „primitiv“-expressiv-abstrakten Ausdrucks-, Mal- und Kunstformen entsprachen daher recht eigentlich besehen der weltweit krisenhaften Zuspitzung in Gesellschaft und Kultur:

Mark Rothko, Adolph Gottlieb und Barnett Newman sahen sich … als moderne Mythenschöpfer, die im Rückgriff auf „primitive“ und archaische Kulturen … zeitlos gültige und unmittelbar zugängliche Metaphern und Symbole für die tragische Befindlichkeit des modernen Menschen schaffen wollten (Hess, B. & Grosenick, U. (Hrsg.): Abstrakter Expressionismus, Köln 2005, S. 10).

Fast alle Vertreter des Abstrakten Expressionismus einte die Überzeugung, dass Emotionen und Spontaneität wichtigere Voraussetzungen für die Malerei und das Kunstschaffen bedeuten als Vernunft, Planung und perfekt umgesetzte Techniken. Der Farbauftrag mit Spachteln und den bloßen Händen oder das Bewerfen einer Leinwand mit Farbbeuteln und -eimern gehörten ebenso zum Methodenkanon dieser Künstler wie die Verwendung von Sand, Gips, Lehm oder Holzspänen, die überraschende Oberflächeneffekte auf den jeweiligen Bildern hervorriefen:

Ihre Werke mussten rasch entstehen wie die der chinesischen Kalligraphie, sie durften nicht überlegt sein, sondern mussten gleichsam unmittelbar hervorbrechen… Auch in dieser Beziehung setzte die neue Bewegung die Tradition des frühen 20. Jahrhunderts fort. Kandinsky, Klee und Mondrian waren ja auch Mystiker gewesen, die durch den Schleier der Erscheinung hindurch zu höheren Wahrheiten durchzudringen hofften (Gombrich, E.: Die Geschichte der Kunst (1950), Frankfurt am Main 1996, S. 604f.).

Parallel zum Abstrakten Expressionismus in den USA (mit dem Zentrum der New York School) entwickelte sich in Europa und hier vor allem in Paris die Malerei des Informel (als die Abkürzung für informelle, freie und formale Grenzen sprengende Kunst). Paris war als Brennpunkt dieser Entwicklung prädestiniert, da es aufgrund seiner kulturellen Tradition im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts schon seit langem experimentierfreudige Künstler angezogen hatte und mit dem philosophischen Existentialismus von Jean-Paul Sartre, Simone de Beauvoir und Albert Camus in den 40er und 50er Jahren wesentliche Stichworte (z.B. Freiheit, Wahl, Revolte, das Absurde) für die Literatur- und Kunst-Schaffenden der damaligen Zeit lieferte. In den 50er Jahren griff diese abstrakt-expressive Art der bildenden Kunst auch auf Westdeutschland über, wo sie kontradiktorisch zum sozialistischen Realismus der DDR unter anderem als angeblicher Ausdruck freiheitlicher Demokratie politisch funktionalisiert wurde.

Für alle diese Entwicklungen des Abstrakten Expressionismus, des Informel wie auch der westdeutschen Nachkriegs-Abstraktion (z.B. K.O. Götz, Ernst Wilhelm Nay, Fritz Winter) sind im Museum Barberini überzeugende Beispiele der diversen Künstlerinnen und Künstler zu bestaunen. Den oftmals großformatigen Bildern wohnt in ihrer Mehrzahl auch Jahrzehnte nach ihrer Entstehung eine immense, aufrüttelnde Ausdruckskraft oder aber eine zarte Poesie und subtile Erotik inne, die den Vergleich mit den expressionistischen Kunstwerken des frühen 20. Jahrhunderts in keiner Weise zu scheuen braucht. Wer in den letzten Tagen im Potsdamer Museum Barberini war, kann daher mit Puccinis Tosca singen: Vissi d’arte – ich habe (für Stunden) Kunst ge-/erlebt.