Charlotte Salomon: Leben? Oder Theater?
Künstler*in: | Charlotte Salomon |
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Ausstellung: | Lenbachhaus München |
Rezensent*in: | Monika Schoene |
Datum: | 07.01.2024 |
Die 26-jährige jüdische Künstlerin Charlotte Salomon (1917-1943) aus Berlin, ermordet im Konzentrationslager Auschwitz, hinterließ ein aufsehenerregendes Konvolut ihres malerischen Könnens - ein Nachlass von größter Eindringlichkeit, für den sich lange Zeit nur wenige interessierten. Ihre Hoffnung, im südfranzösischen Exil Villefranche-sur-Mer vor den Häschern sicher zu sein, täuschte. Drastisch veränderten sich durch die Besetzung großer Teile Frankreichs durch die Deutschen sowie aufgrund des Vichy-Regimes auch ihre Lebensverhältnisse als verfolgte Jüdin. Kein gutes Ende vorausahnend, entschied sie sich, einem Vertrauten ihre mehr als 1.300 Gouachen in einem Koffer zu übergeben. Beschwörend fügte sie die Worte hinzu: „Sorg gut dafür, es ist mein ganzes Leben“.
Ihre im Amsterdamer Exil überlebenden Eltern sicherten das kostbare Gut und übergaben es 1971 dem heutigen Jüdischen Museum in Amsterdam, das seitdem Ausstellungsanfragen aus aller Welt erhält. 1981 publizierte es ausgewählte Gouachen. Zunehmend wuchs das Interesse an der Bildersammlung. Berlin, Frankfurt, Kassel, Jerusalem und viele andere Orte machten in öffentlichen Einzelausstellungen, Filmen, Theater- und Opernaufführungen und Büchern auf das Oeuvre von Charlotte Salomon aufmerksam.
Von März bis September 2023 würdigte nun das Lenbachhaus in München mit der Ausstellung Charlotte Salomon – Leben? Oder Theater erneut das Werk der Künstlerin. Die Wahl des Ausstellungsortes, unauffällig in einem unterirdischen Zwischengeschoß der U-Bahnstation Königsplatz gelegen, suggerierte die Schrecken des bebilderten Zeitgeschehens. Der vom Lenbachhaus gestaltete Galerieraum bot durch Ausleuchtung und Farbgebung eine Atmosphäre, die einen tief in Bilder, Texte, Musik und Filmsequenzen eintauchen ließ. Besonders berührend war die filmische Reproduktion des Interviews mit den Eltern Paula und Albert Salomon. Ihre Wärme und Lebensbejahung erfasste den Betrachter.
Der Titel Leben? Oder Theater, eingefangen in einem großformatigen Wandbild, zeigte eine junge Frau im Badeanzug mit Pinsel und Zeichenblock am Meer sitzend. Auf deren Rücken wiederholen sich diese Worte vor blauem Grund. Charlotte selbst hatte ihr Werk Leben? Oder Theater? genannt und es wie ein Theaterstück – oder auch Singespiel, so der Untertitel – in Vorspiel, Hauptteil und Nachwort eingeteilt. Wirkungsvoll wurde diese Struktur durch die drei Wandfarben Blau, Rot und Gelb im Kunstbau räumlich aufgegriffen. 237 Blätter im Format von 32 x 25cm waren auf schmalen Schienen ohne Rahmung, farblich abgesetzt, im gesamten Kunstbau aufgereiht. Stellwände versperrten den Blick und weckten Neugierde.
Drehbuchartig angeordnete Einzelbilder, Wimmelbilder, kleine Reihen und ganze Serien, ähnlich einem Comic oder einer Graphic Novell steigerten den Eindruck. Begleitende Texte zu den Motiven berührten, Poesie und Drama ausdrückend, sinnlich und verstörend, wahrhaftig, echt und fiktiv. Der abgedunkelte Kunstbau ermöglichte lesend, schauend, staunend, zudem in die Musik hineinhörend, die Charlotte Salomon erwähnt und die an einzelnen Stationen über Kopfhörer eingespielt werden konnte, ein multisensorisches Kunsterlebnis.
Charlotte Salomon verwebt in dem Werk autobiografische und fiktive Elemente zu einer Neuerzählung ihres Lebens, die durch die Vielfalt von Bildschöpfungen und die reichen Bezüge zu Kunst, Film, Musik und Philosophie der Zeit beeindrucken. Mitte Zwanzig, mit einem schwierigen alten Großvater im Exil und den äußeren beklemmenden Umständen konfrontiert, sah sich Charlotte Salomon „allein mit ihren Erlebnissen und dem Pinsel“ vor der Frage, sich das Leben zu nehmen oder etwas ganz „Verrückt-Besonderes zu unternehmen“. Sie entschied sich für Letzteres. In kaum achtzehn Monaten malte sie von 1940 bis 1942 Erlebtes und Gefühltes.
In einem Gattungsmix wechseln Straßenszenen, Familienfeste, Reisebilder, Geburts-, Heirats- und Todesanzeigen, Interieurs, Porträts und Landschaften einander ab. Mal aus der Vogelperspektive betrachtet, mal herangezoomt, mal in einer ungestümen Bildsprache.
Schauplätze sind Berlin, später Villefranche-sur-Mer und Nizza. Vorangestellt wurden die wichtigsten Personen mit Fantasienamen und einem Foto der realen Person. Lustig assoziativ unbenannt heißt die Stiefmutter, die international gefeierte Sängerin Paula Lindberg-Salomon, hier „Paulinka Bimbam“, die schwierigen Großeltern tragen die Namen „Herr und Frau Dr. Knarre“, Charlottes Vater wird zu „Albert Kann“.
Im Vorspiel der Bilderreihe blickt „Charlotte Kann“ auf die Familiengeschichte zurück und setzt in den Jahren vor ihrer Geburt ein. Vor kühlen, blauen Wänden findet dieser Prolog statt. Ein Bild beschreibt z.B. den Abschied des Vaters, der als Arzt 1916 sofort nach der Hochzeit wieder an die Front musste. Einem Zeitraffer gleich wird die Ankunft eines Zuges mit Verwundeten dargestellt und seitlich davon der an die Front abfahrende Zug. Wie ein sich teilender Vorhang öffnet sich der Blick auf das betrübte Grüppchen der Zurückbleibenden. Dann wandert Frau Franziska (Charlottes Mutter) im blauen Kleid in fünf Phasen in die untere Bildebene, wo sie mit gezücktem Schlüssel vor der neuen Wohnung alleinsteht. Ein Folgeblatt zeigt aus der Vogelperspektive elf „mit viel Liebe und Geschmack“ eingerichtete Räume bis ins kleinste Detail.
In Registern legt die Künstlerin verschiedene Szenen ihrer Kindheit übereinander an: der erste Schultag, Kindergeburtstag, Weihnachten, Spiele im Schnee. In vergraute Stimmung und Farbigkeit übergehend kommen Trauer, Schulprobleme und verhasste Erzieherinnen zum Ausdruck. Ein Wandel ist sichtbar, als jene liebevolle Erzieherin ins Leben tritt, die das Mädchen zum Zeichnen anleitet; Balsam für deren verschlossene Seele. Richtig hell erstrahlt die Bildpalette mit Auftritt der glühend verehrten Stiefmutter Paulinka Bimbam. Mit ihr kommen Leben und Musik ins Haus. Ebenso der Gesangspädagoge Alfred Wolfsohn alias „Amadeus Daberlohn“, in den sich Charlotte wohl verliebt hatte. Er nimmt mehr als die Hälfte des Konvoluts ein, mal zoomt sie seinen Lockenkopf nah heran, mal erscheint er vielfach auf einem Blatt. Seine Theoriemonologe stellt sie erstaunlich treffend dar. In raschen Schwüngen schnellt eine Liegefigur übers Papier und lässt den begleitenden Schriftfluss rhythmische Wellen schlagen.
Der Hauptteil, rot hinterlegt, zeigt Einzelporträts voller Klarheit. Salomon setzt auf Motive, die sich verdichten und zu Bildgeschichten voller Details werden. Reihen abstrakter Gebilde, die von weitem wie flüchtige Strichmuster wirken, beim Näherkommen wie eine Anordnung von Pistolen, von Nahem erkennt man schließlich die lang gestreckten, liegenden Gestalten.
Im Nachwort des dreiteiligen Werks – das Gelb der Wände steht in totalem Kontrast zu dem, was man hier erfährt – erklärt Charlotte Salomon, wie es zu Leben? Oder Theater? kam. Im März 1940 hatte sich ihre depressive Großmutter im Exil in ihrem Beisein aus dem Fenster gestürzt. Es veranlasste den Großvater, Charlotte mit dem Familien-Geheimnis zu konfrontieren, dass ihre Mutter und deren Schwester sich ebenfalls suizidiert hatten - und er schlug völlig hilflos und ohnmächtig vor, dass sie sich selber auch das Leben nehmen solle. Sie entschied sich anders und wollte - für uns Jahrzehnte später zum Glück - etwas „Verrückt-Besonderes unternehmen“.
Abschließend sei auf ein weiteres Detail verwiesen, den unübersehbar im Raum des Kunstbaus platzierten sogenannten Daberlohn-Brief. Die in bunten Tuschefarben projizierten Textseiten ziehen die Blicke an. Charlotte Salomon beschreibt hier sehr realistisch, ihren Großvater mit Veronal in einem Omelett vergiftet zu haben. Ist dieser brisante Inhalt des Briefes ein Geständnis oder doch nur fiktiv als ein Teil ihres Kunstwerkes zu deuten? Die Fakten sind ungeklärt, und meines Erachtens darf das auch so bleiben.