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Rezensionen
ITGG Berlin - Rezensionen
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Ausstellungen

Alle Kunst will Musik werden

Künstler*in:Armin Mueller-Stahl
Ausstellung:Kunsthalle Rostock
Rezensent*in:Gerhard Danzer
Datum:16.07.2022

Armin Mueller-Stahl (geboren 1930) ist den meisten von uns wahrscheinlich als exzellenter Schauspieler bekannt: Von Jakob der Lügner über Lola und Die Sehnsucht der Veronika Voss bis hin zu Night on Earth sowie Die Manns und Die Buddenbrooks reicht die Filmographie der weit über 100 Filme, in denen Mueller-Stahl bisher mitgewirkt hat, und die ihn zu einem der bekanntesten und hoch dekoriertesten deutschsprachigen Mimen der letzten Jahrzehnte werden ließen.

Der inzwischen über 90 Jahre alte Mueller-Stahl hat eine bewegte Biographie aufzuweisen. Geboren im ehemals ostpreußischen Tilsit wurde der Knabe mit Kriegsbeginn 1939 quasi Halbwaise: Zuerst wurde sein Vater zur Wehrmacht eingezogen, und gegen Ende des Krieges starb er Anfang Mai 1945  in einem mecklenburgischen Lazarett. Die Mutter mit ihren insgesamt fünf Kindern verließ bereits 1938 Ostpreußen und lebte bis 1948 in Prenzlau, einer kleinen brandenburgischen Stadt.

Mueller-Stahl beabsichtigte ursprünglich, Berufsgeiger zu werden. Dementsprechend absolvierte er Ende der 40er Jahre eine Ausbildung in Berlin, und im Anschluss daran begann er eine Schauspiel-Ausbildung, die er allerdings abbrechen musste, da man ihm mangelndes Talent attestierte. Der junge Möchtegern-Schauspieler ließ sich jedoch nicht entmutigen und suchte Kontakt zu Helene Weigel und zum Berliner Ensemble am Schiffbauerdamm – eine Kontaktaufnahme, die vom Erfolg gekrönt war: Ab 1952 wurde er in diese Schauspiel-Gruppe aufgenommen, und seit dieser Zeit entwickelte sich Mueller-Stahl zuerst etwa zwei Jahrzehnte auf der Bühne und nach und nach auch beim Film zu einem ausnehmend vielseitigen und gefragten Schauspieler.

In der DDR war Mueller-Stahl lange Zeit überaus anerkannt und wurde entsprechend mit Preisen gewürdigt. In den 70er Jahren positionierte er sich aber zunehmend kritisch zu den Parolen und Entscheidungen der Regierung und der Partei (SED), und als er nach der Ausweisung von Wolf Biermann (Ende 1976) offen dagegen protestierte, sank sein Beliebtheitsstern bei den Partei-Oberen rasch und merklich. So war es nicht verwunderlich, dass man ihm 1980 seine eigene Ausreise in die BRD erlaubte.

Im Westen konnte Mueller-Stahl bald wieder an seine ehemaligen DDR-Erfolge als Schauspieler anknüpfen. Er übernahm Rollen in Filmen von Rainer Werner Fassbinder, Herbert Achternbusch, Alexander Kluge, Heinrich Breloer oder auch auf dem internationalen Parkett von Jim Jarmusch – Rollen, die er derart glänzend ausfüllte, dass ihm neben vielen anderen Auszeichnungen eine Oscar-Nominierung sowie der Grimme-Preis (für die grandiose Darstellung von Thomas Mann in Die Manns) zuerkannt wurden. Auch in den Vereinigten Staaten und in Hollywood konnte Mueller-Stahl ab etwa 1990 reüssieren; seine mangelnden Englisch-Kenntnisse kompensierte er mit umso großartigerer pantomimisch-gestischer Kompetenz.

Seit den 80er und 90er Jahren ist Mueller-Stahl verstärkt auch als Autor, Zeichner und Maler aktiv. Ein frühes Beispiel für das Pflegen seines Multitalents hatte er bereits in seiner Kindheit bei seinem Vater erlebt: Dieser, ein gelernter Bankkaufmann, musizierte zuhause, spielte in einer Schauspielgruppe der Stadt Tilsit mit und malte und zeichnete. Alle diese Medien verwendet auch Mueller-Stahl, um sich auszudrücken: Malerei, Zeichenkunst und Schriftstellerei sowie bisweilen auch die Musik. Letztere genießt er (meist als Jazz-Einspielungen, zum Beispiel von Dave Brubeck) gerne auch als Rezipient in seinem Atelier.

2001 kam es im Potsdamer Filmmuseum zu einer ersten umfassenden Ausstellung von Zeichnungen, Drucken und Malereien Mueller-Stahls. Diesem Auftakt folgten in den letzten zwei Jahrzehnten Dutzende von weiteren Einzelausstellungen in Deutschland, Italien, Tschechien, Russland, Polen, Österreich und den USA. Die hier angezeigte Werkschau in der Kunsthalle Rostock trägt den Titel Alle Kunst will Musik werden – ein Titel, der auf eine Aussage Mueller-Stahls Bezug nimmt, der die Musik einmal als basales, fundamentales Medium und Ausdrucksmittel für alle anderen Künste respektive Medien bezeichnete. Die gezeigten Grafiken, Zeichnungen, Aquarelle sowie Acryl- und Ölbilder beziehen sich daher mehrheitlich auf die Musik sowie auf Musiker, von denen Mueller-Stahl in den letzten Jahren treffende Porträts anfertigte.

Besonders angetan war ich von zwei Arbeiten Mueller-Stahls aus der allerjüngsten Zeit: Einer Art Selbstporträt (Ohne Titel, 2022), das ihn als Künstler, Clown, Musiker in voller Aktion mit einem Akkordeon zeigt – im Hintergrund zeichnet sich eine dunkle Gestalt ab, von der nicht klar erkenntlich ist, ob es sich um seinen Schatten, einen Zuhörer oder aber um Gevatter Tod handelt. Doch selbst wenn sich (bei einem über 90-jährigen Mann als Assoziation nicht überraschend) in der dunklen Gestalt der Tod verbirgt, signalisiert das Gemälde ein trotziges Dennoch: Ich singe so lange irgend möglich mein Lied, selbst wenn ich damit letztlich meinem Ende nicht ausweichen kann. Und auch das zweite Bild, das mich sehr bewegte, stammt aus dem Jahr 2022; es trägt den Titel Ukraine, Russland. Mueller-Stahl hat als Entstehungsdatum den 24. Februar 2022 (Beginn des Krieges) deutlich sichtbar auf der Leinwand platziert – auf einer Leinwand, in deren Mitte eine große sichelartige Wippe (Russland) dominiert, die das viel kleinere, bereits blutgetränkte Gebiet der Ukraine (links unter dem einen Arm der Wippe befindlich) entweder zerquetschen oder aber (falls sie sich zur anderen Seite neigen würde) freigeben könnte.

Armin Mueller-Stahl ist ein politisch wacher und existentiell engagierter Künstler, der bei aller Verspieltheit und kreativen Ästhetik um den Imperativ der Kunst weiß (zeitweise musste er diesen Imperativ erst mühsam erlernen) und ihm gerecht wird: Künstler (so lautet der Imperativ), singe Dein eigenes Lied und nicht das der Herrschenden und der Majorität; singe das Lied der Menschlichkeit und nicht dasjenige von Unterdrückung und Gewalt; und singe das Lied von Freiheit und Vernunft, die die Kunst so bitter nötig hat, weil sie im Alltag von Nutzen und Notdurft beinahe regelmäßig in Vergessenheit geraten.