Tiefenpsychologie
Der Begriff Tiefenpsychologie stammt vom Schweizer Psychiater Eugen Bleuler (1857-1939), der als einer der ersten Hochschullehrer im Fach Psychiatrie anerkennende Worte für die Psychoanalyse fand. Freud übernahm ihn 1913 in seinem Essay Das Interesse an der Psychoanalyse.
Wer Tiefenpsychologie sagt, denkt unwillkürlich an eine Oberflächenpsychologie; mit der Letzteren kann jene Fachrichtung gemeint sein, die nur das Bewusstsein des Menschen untersucht. Wer hingegen auch das Unbewusste in die Betrachtung einbezieht, vertritt eine Dynamische oder Tiefenpsychologie.
Das Unbewusste als Tiefe des Menschen: Mit diesem Begriff schafft man ein räumliches Bild für die Psyche. Freud z.B. verwendete eine Stockwerkvorstellung, als er die seelischen Instanzen von Es, Ich und Überich einführte. Im Überich befinden sich unsere hohen Ideale, das Ich bezieht sich auf die Wirklichkeit, und in den Kellerräumen des Es sind unsere Triebe verstaut.
C.G. Jung tauchte mit seiner Theorie des kollektiven Unbewussten noch tiefer in die Raumsymbolik ein. Wer seiner Ansicht folgt, findet unter der Schicht des Bewusstseins das persönliche Unbewusste und noch weiter unten die Archetypen, die Urbilder der Seele. In einem fast allegorisch anmutenden Traum, der für Jung Schlüsselbedeutung hatte, erlebte er sich als Bewohner eines Hauses, dessen Souterrain aus dem Mittelalter stammte. Noch tiefer liegende Räume erinnerten an die Römerzeit, und eine Falltüre führte in ein höhlenartiges Verließ, wo Knochen und Werkzeuge aus der Steinzeit herumlagen.
Phänomenologen wenden ein, dass räumliche Bilder für die Kennzeichnung des Wesens der Seele unangemessen sind. Die Seele sei weder ein Haus noch eine Kapsel, worin sich Gefühle und Triebe befinden. Sie ist reines Bezogensein auf die Welt hin (Intentionalität). Alfred Adler vermied Metaphern, die eine Verdinglichung des Seelischen nahelegen. Das Unbewusste dürfe nicht wie eine zweite Persönlichkeit hinter dem Ich angesehen werden.
Man spricht auch von der Tiefe des Raumes und der Zeit. So spielt sich auf der Bühne des Seelischen nicht alles im Rampenlicht ab; die entscheidenden Vorgänge sind zumeist im Hintergrund oder Halbdunkel und darum nicht weniger wirksam. Grundlegend für das Menschenleben ist die zeitliche Tiefe. Die Vergangenheit eines Menschen lebt mit und ist schicksalsbestimmend; sie gehört zur Ganzheit des Selbst (der Person), von der das Ich nur einen winzigen Ausschnitt kennt und weiß. Diese Ganzheit ist der eigentliche Erlebnis- und Handlungsfaktor.
Adler sprach nicht gern vom Unbewussten, lieber verwendete er den Begriff des Unverstandenen: Wir reagieren stets ganzheitlich, verstehen aber nur wenige Aspekte davon. Erweitert man gemeinsam in der gelebten psychotherapeutischen Beziehung die Selbsteinsicht, dann sieht es so aus, als ob unbewusste Inhalte ins Bewusstsein gehoben werden. Was aber eigentlich geschieht, ist die Betrachtung des Zusammenhanges im Leben und Erleben, die Ausweitung des Horizontes im Verstehen.